Im Reich der Gnome

Der britische Starjockey Lester Piggott lockte 43.000 Zuschauer zur Saisoneröffnung der 123 Jahre alten Galopprennbahn Hoppegarten vor die Tore Berlins, doch seine Pferde mochten ihn nicht  ■ Vom Geläuf Michaela Schießl

Unter den groben Fachwerkbalken der düsteren Kammer mischt sich der Dunst von Schweiß, Leder und Zigarren. Federleichte Sättel hängen aus braunen Holzschränken, kurze Peitschen liegen neben winzigen Stiefeln in der Ecke. Aufgeregt wuseln gnomenhafte kleine Schmächtlinge durch die engen Gänge, tauschen hastig ihre bunten Seidentrikots gegen andersfarbige oder sammeln sich in Trauben vor dem Monitor. Galopprennbahn Hoppegarten, Umkleidekabine der Jockeys.

Eine Atmosphäre wie in einem Zirkuswagen. Nur daß die Akteure zu groß sind für Liliputaner. Und zu klein, um im Alltag nicht aufzufallen. So begibt sich der 1,60 Meter kleine Mann, sofern schmalbrüstig, zierlich und mutig, zum Balanceakt in eine skurrile Welt aus Adel, Geld, und Pferdemist. Und auf die Pferde, über die Köpfe ihrer Arbeitgeber.

Vom Hochherrschaftlichen des Galoppsports ist in der Umkleidekabine nichts zu verspüren. Eiliges Ausziehen wird von derben Sprüchen begleitet, Ärger oder Freude über den Rennverlauf losgelassen, Quoten herauskrakeelt. Und doch war am Sonntag in Hoppegarten, der 123 Jahre alten und einst königlichen Rennbahn vor den Toren Berlins, ein Hauch von Ascot selbst in der muffigen Kammer zu verspüren. Denn unter den Jockeys weilte der Meister der Meister: Lester Piggott, einer der erfolgreichsten Jockey der Welt, von den Hoppegartlern als Publikumsmagnet zum Saisonstart eingekauft. Die Rechnung ging auf, 43.000 Zuschauer und Wettfreaks pilgerten ins Grüne zur schönsten Rennbahn Deutschlands.

Doch die Legende ließ sich Zeit. Lange nach den ersten Zuschauern trudelte Piggott ein. Direkt vom Flughafen via Umkleidekabine setzte sich der 55jährige mit dem zerfurchten Gesicht auf das erste ihm zugewiesene Pferd. „Meerforscher“ jedoch schien die unbekannte Hand erstmal sehen zu wollen, bevor er sich davon führen ließ. Durch einige bedrohliche Luftsprünge zwang er den Meisterjockey zum allzu hurtigen Absteigen. Reichlich genervt ob so wenig Demut ließ Piggott den unartigen Zossen vom Pfleger quer über die ganze Bahn zum Start führen und bestieg das wilde Tier erst kurz vor der Startbox.

Kein Wunder also, daß die Zusammenarbeit nicht klappte. Auch mit den anderen Pferden konnte Herr Piggott seinen über 5.000 Siegen keinen weiteren hinzufügen. „Ich bin einfach nicht schnell genug geritten“, stellte er nach vier Rennen wortkarg fest. „Die Pferde wollten mich anscheinend nicht. Was kann man da machen?“ Vielleicht einen Tag früher kommen und die Tiere zumindest einmal vorher antesten...

Doch am Ende tut man der berühmten Sensibilität der Piggottschen Arschbacken Unrecht. Denn zugegebenermaßen waren Pferde wie Reiterkollegen weit unter dem Niveau des Engländers, den einzig die 20.000 Mark Tagesgage nach Berlin gelockt hatte. Das Geld braucht er dringend, kam doch der englische Staat seiner Steuerhinterziehung auf die Schliche.

Piggotts Berufskollegen kassierten magere 85 Mark pro Rennen und blieben dennoch voll neidloser Bewunderung. Hoppegarten-Jockey Alfred Lehmann über Piggott: „Fliegen kann er halt auch nicht, wenn's die Pferde nicht hergeben.“ Platz drei blieb die beste Plazierung des 55-Kilo-Meisters, der seinen letzten Auftritt wegen Chancenlosigkeit, und weil er sonst den Rückflug nicht mehr erwischt hätte, ersatzlos strich. Zumal er für das Hauptrennen kein Tier bekommen hatte: Die Pferdebesitzer wollten verständlicherweise für eine Pigottsche Kurzshoweinlage ihre Hausjockeys nicht verärgern. So ritt der Champ halt die Mähren, kassierte und zog very distinguished gen Great Britain ab.

Der Sinn der Übung war ohnehin erreicht: 43.000 Zuschauer setzten 658.000 Mark am Totalisator um. Und sicherten so die Überlebenschancen der Rennbahn. Noch befindet sie sich in Händen der Treuhand, doch das Land Brandenburg will das Unternehmen übernehmen. „In ein paar Jahren ist Hoppegarten wieder die Nummer in Deutschland“, orakelt der Vizepräsident des deutschen Galopperverbandes, Hans Heinrich von Loeper. Und weidete sich an den bunten Hüten, eleganten Kleidern und dem perlenden Champagner. Tatsächlich schwebte ein Hauch von Aristokratie, Adel und Sommerfrische über der sonnenbeschienenen Veranstaltung. Junge Männer in hellen Anzügen und Strohhüten, Damen in italienischem Schuhwerk und mit breitkrempigen Galahüten, Federboas, Netzstrümpfen, Lachs und Ferngläsern: Hoppegarten als Verkleidungsereignis. Heitere Gelassenheit ohne allzuviel Arroganz. Noch war es einfach, an den livrierten Ordnern vorbei eine Loge im VIP-Bereich zu besteigen und einmal im Leben Teil des adligen Dünkels zu sein. Und so waren es nicht zuletzt Studenten und noch unbekannte Künstler, die sich perfekt gestylt auf den VIP-eigenen Rasen direkt vorm Geläuf niedersetzten und sich als Scheinadel in der Sommerfrische fotografieren ließen. In memoriam Theodor Fontane...