Das Volk marschiert hier nicht mehr

■ Der Glanz der Schönhauser Allee ist verblaßt, und staatstragende Ereignisse sind Geschichte

In der Schönhauser Allee kann man zwei Leben leben. Eines auf der Straße und eines auf den Hinterhöfen. Die gehören den Kindern der Schönhauser Allee. Nur sie kennen das Labyrinth der Hauseingänge und Flure, der Fluchtwege und Abkürzungen über vier, fünf, manchmal sogar sechs Höfe hinweg. Hier hatten auch wir unser Revier. Die Treppe zum Seitenflügel den Mädchen für ihre Mutter-Vater-Kind- Spiele, die Mauern den Jungs für ihre Mutproben. Scherben, einst im feuchten Beton spitz aufgereiht, säumten die Kanten der Hofmauern und hinterließen in den Kinderhänden blutige Spuren. An der Kloppstange, dem proletarischsten Wahrzeichen der Hinterhöfe, schlugen wir uns gleichberechtigt beim Schweinebaumeln das Kinn auf.

In der Nummer 69 ist die letzte Drohgebärde des Kapitals — Ballspielen auf dem Hof verboten. Der Hausbesitzer — im realexistierenden Sozialismus verschwunden. Das Kapital ist zwar wieder da, aber der Hausbesitzer Gott sei Dank noch nicht. Die einstigen SpielkameradInnen leben in Nürnberg oder Charlottenburg. Und aus den Kellerfenstern kommt derselbe feuchtkalte, muffige Gestank eines ganzen Jahrhunderts hoch. Das Leben auf der Straße in der Schönhauser, wie die Leute kurz sagen, hat sich kaum verändert, auch im Jahre zwei nach der Zeitenwende. Der Verkehr tobt dreispurig und läßt den Menschen und den Bäumen dieser Allee kaum Luft zum Atmen. Für die 1743 gepflanzten Linden und Kastanien wurde hier schon im August Herbst. Länger hielt es die Blätter nicht am Baum. Die gelbe Untergrundbahn fährt kurz hinter dem Senefelder Platz nach oben, um auf altersschwachem Eisen erst in Pankow wieder hinabzutauchen. Die Linie 1 des Ostens. Sie wirft an drei U-Bahnhöfen, die sich über die Zeit kaum verändert haben, Menschenmassen aufs Trottoir der Schönhauser. Sie ist eine der breitesten Magistralen der Stadt und doch herrscht ewig Gedränge. Hier ging es im sozialistischen Gleichklang schon immer etwas lauter und heftiger zu als anderswo. Die Kneipen und Bars hatten länger geöffnet, obwohl sie nicht auf den Routen der Touristenbusse lagen. Heute hasten die Menschen die Allee entlang und kaufen beim Vietnamesen billige Zigaretten und am S-Bahnhof ehemalige DDR- Produkte. Der Schein trügt. Ein Stück des seltsamen Glanzes ist fort, denn eines ist die Schönhauser nicht mehr: staatstragend.

In vorrevolutionären Zeiten diente die drei Kilometer lange Allee bei Staatsbesuchen aus befreundeten Ländern als prachtvolle Kulisse. Spalierbildend und »Winkelemente« schwenkend, säumte das Volk die Straße und begrüßte die Gäste ihres Herrn. Für die Kinder aus den umliegenden Schulen waren es glückliche Tage. Der Unterricht fiel aus und wir bestaunten die im Kranichkeil den Staatskarossen vorauseilenden Polizeitrupps auf Motorrädern. Um Honecker und seine Besucher mit den Erfolgen der Werktätigen zu erfreuen, wurden rechtzeitig die Fassaden der heruntergekommenen Gründerzeithäuser aufgefrischt. In der Hoffnung, nach oben würde er nicht gucken, beschränkte man sich mit den flüchtigen Schönheitsarbeiten auf die erste Etage. Potemkinsche Dörfer in der Schönhauser.

Auf diesen Weg nach Norden hatten sich schon die Junker und Fürsten im 18. Jahrhundert zum Schloß Niederschönhausen begeben, in das damals Friedrich II. seine Frau Königin Elisabeth Christine abschob. Da war die Schönhauser Allee noch ein Lehmpfad, hieß Alter Weg nach Pankow und lag außerhalb Berlins.

Erst 1822/28 wurde die Straße zu einer gepflasterten Chaussee und dabei blieb es auch. Kein Bürgermeister der Stadt schaffte es jemals, diese wichtige Verkehrsstraße teeren zu lassen. Und so donnerten kurz vor dem 1. Mai die Parade-Panzer nachts übers Kopfsteinpflaster und lockten neugierige Kinder schlaftrunken ans Fenster. Mit den Mietskasernen blieb sie eine Straße fürs Proletariat. Doch es gibt auch einige gut erhaltene Exemplare wie das ehemalige Männersiechhaus in der Schönhauser Allee 59, das zusammen mit dem gesamten Karree aus roten Klinkern von der »Berliner Gemeinnützigen Baugesellschaft« errichtet wurde. Oder das rekonstruierte dreistöckige Wohnhaus Nummer 55 — ein Vorzeigestück innerstädtischer Sanierung aus dem Jahren 1980/81. Doch sanierte Häuser sind die Ausnahme. Alles altert vor sich hin und manches ist ganz verlassen. Jetzt sitzen dort willige Instandbesetzer wie in der Schönhauser 20/21, kämpfen um Mietverträge und gegen den Schwamm der Jahrhunderte. In der ebenfalls besetzten Schönhauser 5 proben die autarken Mitglieder von Wydox eine ganz und gar unorthodoxe Lebensweise. Zur letzten Kommunalwahl in der DDR traten sie als Vorkämpfer für den Prenzelberg an und kamen auf gut 2.000 Stimmen im Bezirk. Auch der Verein der Freunde von Radio P, dem einzigen Prenzelberger Piratensender, wie sie selbst sagen, ist in diesem Haus ansässig.

Als Ost-Berlin noch Fußball- Mekka war und sich BFC und Union erbitterte Schlachten lieferten, zogen anschließend Tausende Fans grölend vom Exer durch die Schönhauser. »Die schlugen sich mitten auf der Straße die Köppe ein, da gabs kaum Polizei. Man brauchte nur das Fenster aufzumachen, da wußte man schon, wer gewonnen hatte«, erinnert sich eine Anwohnerin. Exer hieß der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportplatz bei den Fans, weil preußische Generäle hier auf dem Exerzierplatz »An der einsamen Pappel« das Soldatenvolk gescheucht hatten. Mit den Demonstranten im 89er Herbst, die kerzentragend über die Schönhauser zur Gethsemanekirche zogen, war es dann vorbei mit Volkes Aufmärschen jeglicher Art auf dieser Allee. Keine Staatskarosse läßt sich mehr blicken, kein Friedensfahrer, kein Fußballfan oder Demonstrant.

Ein Glanz der Schönhauser ganz anderer Art ist auch verblaßt. Längst haben Ku'damm und Kantstraße ihr den Rang als Einkaufsstraße und Flaniermeile abgelaufen. Die Cafés und Kneipen blieben ausgerechnet hier monatelang leer, wo sich die Leute vor der Lolottbar, dem Café Nord, der Schoppenstube oder der Lotusbar die Beine bis in den Morgen in den Bauch standen. Dabei hatte man sich im Roten Rathaus noch solche Mühe gegeben, um diese historische Ecke Schönhauser nicht im infrastrukturellen Brei versinken zu lassen. Zunftzeichen und Markisen, Sonnenschirme und originell gestaltete Schaufenster sollten das Straßenbild beleben. Doch was haben die Anstrengungen für ein »attraktives Äußeres, für mehr Kundenfreundlichkeit« genutzt? Nicht viel. Das bißchen Individualität verliert sich nun in der Einheitskette. Die Schuhläden gehen in die Hände von Görz oder Leiser, die Elekronik greift sich Wegert und die Schreibwarenläden Herlitz MacPapers.

Was sich nicht an eine Kette verdingen läßt, wird zugemacht. Allein zwischen den U-Bahnhöfen Dimitroffstraße und Schönhauser Allee schlossen zum Unmut der Anwohner die Fleischerei, der Gemüseladen, der Lebensmittel-Konsum und der Gewürzladen. Und letzte Woche hat auch noch die einzige Kaufhalle dichtgemacht. Auch die beiden Schwestern im Souterrain mit ihrer Drogerie haben nach der Währungsunion aufgeben müssen. Den Cafés geht es nicht besser. Der Milchmixer und das Wiener Café, in dem die Szene und die Omas bei Cello und Violine saßen, haben den Übergang vom Plan zum Markt nicht überstanden. Was werden wird, kann keiner sagen. Das will auch niemand mehr. Der Konkurrenzkampf zieht ein auf der Schönhauser. Die, die es geschafft haben, wollen oben bleiben. Anja Baum

Am kommenden Samstag Folge 7: die Nollendorfstraße.