Nach dem Winterschlaf: Ein neuer Frühling für die Grünen?

Die Krise der Grünen ist längst ausgemacht. Gut vier Monate nach dem winterlichen Wahldebakel, das die Partei ihre Präsenz im Bonner Parlament kostete, entscheiden die Grünen auf dem Parteitag Ende April in Neumünster über ihre Zukunft. Ob der alte Grabenkrieg beendet werden kann, bleibt abzuwarten. Ludger Volmer und Michael Vesper, zwei exponierte Vertreter der beiden zerstrittenen Parteiflügel, halten einen Neuanfang nicht für ausgeschlossen und versuchen eine künftige Ortsbestimmung grüner Politik  ■ Von Michael Vesper

GrünerRealo

Die Grünen haben ihre schönste Zeit hinter sich“, schreibt eine Arbeitsgruppe des SPD- Landesvorstands NRW um Geschäftsführer Bodo Hombach. Und weiter: „Das ökologische Thema ist Allgemeingut geworden. Neue Themen haben sie nicht entwickelt.“ Die Grünen vor dem politischen Ende? Ich schließe es nicht mehr aus — weniger wegen des Desasters bei der Bundestagswahl selbst, als wegen des bisherigen innerparteilichen Umgangs damit. Je länger der 2. Dezember vergangen ist, desto stärker kehrt der alte Trott wieder ein. Wo andere Parteien längst Sonderparteitage veranstaltet oder ihr Debakel anderweitig aufgearbeitet hätten, tauchte unser Bundesvorstand politisch ab und verschob die Bundesversammlung auf Ende April. Dort werden wir wieder einmal vor unserem zweifachen Dilemma stehen: dem Verbrauch unseres inhaltlichen Profils nach außen und unserer kräftezehrenden und ineffizienten Struktur nach innen.

Zum inhaltlichen Dilemma: Unsere originären Themen haben teils die anderen Parteien übernommen, teils wurden sie von den weltpolitischen Entwicklungen der letzten zwei Jahre eingeholt. Auf diese Herausforderung haben wir, wenn überhaupt, nur sehr behäbig reagiert. Die Grünen hatten schon immer mehrere Gesichter. Mittlerweile verschwimmen diese aber mehr und mehr zu einem unkenntlichen Etwas, das, von einzelnen Highlights abgesehen, durchweg nur noch Langeweile ausstrahlt.

Wie ist das zu ändern? Die Grünen müssen die bequeme Ideologie der fundamentalen Systemopposition aufgeben. Und zwar nicht nur deklamatorisch, sondern im politischen Alltag. Wir dürfen in dieser Gesellschaft nicht wie in „Feindesland“ operieren. Sie ist auch unsere Gesellschaft, die wir von innen reformieren wollen. Eine solche Sichtweise hat Konsequenzen für unser Themenprofil. Nicht mehr das Jahrhundertthema Ökologie kann von uns allein reklamiert werden. Wir sind auch nicht mehr die Friedenspartei. Aber es gibt eine Reihe von daraus abgeleiteten Themen, deren Bedeutung perspektivisch weit über die Jahrtausendgrenze hinausreicht und die wir schleunigst besetzen sollten: den Umbau unseres Verkehrssystems zum Beispiel, die Konversion chemischer und militärischer Produktionen in ökologische Produktlinien, Strategien zur Entspannung des Nord-Süd-Verhältnisses, die Erweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten an politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen.

Und natürlich muß ein ganz wichtiger Schwerpunkt die deutsche Einheit werden: Durch eine konsequente Anti-Kolonialpolitik müssen wir darauf hinarbeiten, daß die ehemalige DDR nicht zum Slum des prosperierenden Kern-Deutschlands gemacht und daß die Würde der dort lebenden Menschen gewahrt wird.

Nicht nur wegen dieses letzten Themas ist der Zusammenschluß mit den BürgerInnenbewegungen der ehemaligen DDR das wichtigste Projekt für die nächsten zwei Jahre. Nur gemeinsam wird es uns gelingen, 1994 in den Bundestag einzuziehen.

Zur inneren Struktur der Grünen: Das Grundproblem der Partei, so der Soziologe Joachim Raschke in seiner soeben erschienenen Bilanz Krise der Grünen, besteht darin, daß sie „Legitimität“ und „Effizienz“ nicht vereinbaren kann. Auch bei anderen Parteien gebe es diese Kluft, bei den Grünen aber sei sie extrem: „Das Legitime ist nicht effizient, das Effiziente nicht legitim.“ Will heißen: Was klappt, ist nach Grünen-Kodex eigentlich verboten; was aber erlaubt ist, funktioniert nicht. Natürlich ist dieses Dilemma in der Partei kein Geheimnis. Im Gegenteil: Jede und jeder kennt es, und es kennen, heißt, darunter zu leiden. Das gilt für alle, die für Die Grünen verantwortlich politisch arbeiten, unabhängig von der Strömungszugehörigkeit und der jeweiligen Arbeitsebene. Aber auf Parteitagen, in offiziellen Zusammenhängen herrschen andere Gesetze. Da werden solche Wahrheiten, die die grüne Seele verletzen können, gerne unterdrückt.

Die Grünen retten sich scheinbar aus diesem Dilemma: indem sie so tun, als gebe es zwei Realitäten. Sie leisten sich den Luxus zweier Welten — die schöne der Grundsätze und die häßliche des politischen Alltags. Auf die Dauer kann das nicht gutgehen. So ist kaum ein Begriff bei uns so verpönt wie „Hierarchie“. Freilich gestehen auch Linke mittlerweile ein, daß es in einem komplexen Partei- und Fraktionswesen ohne Hierarchie nicht geht. Nur hierarchische Strukturen ermöglichen sinnvolle Arbeitsteilungen und reduzieren die Reibungsverluste. Geht man offen damit um, sind sie kontrollierbar — anders als jene „informellen Hierarchien“, die die Partei bis heute beherrschen und fast in den Abgrund geführt haben.

Wo die „doppelte Realität“ bei uns Grünen auch sichtbar wird: Angetreten sind wir, die Gesellschaft zu verändern und dabei jede Menge vermeintliche Sachzwänge zu mißachten; angelangt sind wir am Ende bei einer Partei, die sich selber zum Tabu macht.

Dieses Tabu müssen wir brechen. Zur Bundesversammlung liegt ein Antrag aus dem Realo- und Aufbruchspektrum vor, mit dem Strukturfossilien wie die Rotation und die Trennung von Amt und Mandat aufgehoben und professionellere Rahmenbedingungen für die Partei eingeführt werden sollen.

Wir müssen den Mut haben, endlich nicht nur hinzunehmen, sondern aktiv zu fördern, daß unsere Politik mit Personen identifiziert wird. In den grünen Anfangsjahren wurden wir gewählt wegen unserer Ideen, die einfach unverwechselbar und für jedermann/frau leicht identifizierbar waren. Das reicht heute nicht mehr aus: Unsere Politik wird, ob wir es wollen oder nicht, mit Köpfen verbunden. Die Leute wollen grüne RepräsentantInnen wiedererkennen. Sie wollen persönliche Einschätzungen, Vertrauen bilden, ihnen glauben oder ihnen mißtrauen — kurz, sie wollen persönliche Identifikation. Alle Strukturelemente, die dies behindern, müssen abgeschafft werden.

Die Rotation muß weg. Wir verfügen eben nicht über ein unerschöpfliches Reservoir an Menschen, die ein Amt übernehmen wollen — im Gegenteil. Schon heute sind in vielen Kreisverbänden mehr Posten zu vergeben, als aktive Mitglieder zur Verfügung stehen. Überdies sind eben nicht alle zu allem gleich fähig. Schließlich: Die Rotation hat ihr Ziel ohnehin nicht erreicht. Zahlreiche SpitzenpolitikerInnen der Grünen waren SpitzenspezialistInnen in der „Querrotation“.

Amt und Mandat weiterhin uneingeschränkt zu trennen, wäre ein Luxus, der uns unsere Existenz kosten könnte — insbesondere in einer Zeit, in der der Verlust aller Mandate eher zu befürchten ist als Ämterhäufung. Sollen doch die Delegierten, die vielbeschworene Basis, ohne alternativ- bürokratisches Regelwerk frei entscheiden können, wem sie ein Vorstandsamt geben wollen. Vor dem Hintergrund unserer inneren und äußeren Probleme drängt sich vor allem diese Frage auf: Werden wir Grünen die alternative Kraft für den Aufbruch des neuen Deutschland ins Jahr 2000? Dazu bedarf es dreierlei: einer echten Strukturreform, die die Entwicklung zu einer modernen demokratischen Partei ermöglicht; einer inhaltlichen Positionsbestimmung, die uns in der deutschen Parteienlandschaft ein unverwechselbares Profil gibt; und schließlich überzeugende Menschen, die für dieses Gesamtgebilde „Die Grünen“ stehen. Nur wenn die Grünen die Politik wieder on the move bringen, könnte es sein, daß sie ihre schönste Zeit noch vor sich haben.