KOMMENTAR: Jelzin und Brüsseler Spitzen
■ Sozialistische Fraktion sorgt sich um den Bestand der Sowjetunion
Auf besondere Rücksichtsnahme wird ein Politiker wie der Moskauer Volkstribun kaum Anspruch erheben. Politisches Hauen und Stechen ist Boris Jelzin durchaus gewohnt. Aber der Ton, der dem sowjetischen Gast gegenüber von der Sozialistischen Fraktion im Europaparlament angeschlagen wurde, brachte diesen gleichwohl aus der Fassung. Ausgerechnet hier, an einem Ort, der für viele Menschen in der Sowjetunion mehr als nur symbolische Bedeutung hat, sondern auch als Schauplatz der westeuropäischen Demokratie verklärt wird, überwog allein die Sorge um den staatlichen Bestand der Sowjetunion alles andere. Die Einheit des letzten im 18. und 19. Jahrhundert gezimmerten Kolonialreiches der Welt war den Sozialisten wichtiger als die Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft.
Das Argument, mit dem Auseinanderbrechen der UdSSR träten schwer kalkulierbare Sicherheitsrisiken auf, ist so pauschal wie banal. Daß Jelzin mit dem Hinweis auf das Zusammenwachsen Westeuropas gemahnt wurde, zeugt jedoch von Ignoranz und wenig Einfühlungsvermögen gegenüber den sowjetischen Verhältnissen. An der Einheit eines Staates festzuhalten, zu dessen letzten Klammern eine verbrauchte und den Anforderungen der Reformen gegenüber hemmende Bürokratie, der Repressionsapparat und die Armee gehören, ist gleichbedeutend mit der Forderung, die Agonie der sowjetischen Gesellschaft zu verlängern. Die in den europäischen Hauptstädten und in Brüssel selbst gewährten Kredite für Gorbatschow werden sich nicht verzinsen. Es ist zudem nicht ausgeschlossen, daß nach dem Zusammenbruch des zentralistischen Systems neue Formen der Kooperation zwischen den sowjetischen Republiken und Regionen entstehen werden. Diese neuen Formen, für die Jelzin symbolisch steht, politisch und finanziell zu fördern ist zukunftsweisender, als mit Gorbatschow die Herrschaft des alten Apparats zu unterstützen.
Die „Angst vor dem Chaos“ hat in der Geschichte oftmals als Folie gedient, repressive Maßnahmen zu begründen und sie damit letztlich erst herbeizuführen. Die Resultate der Angst vor dem Auseinanderbrechen des Irak stehen uns in diesen Tagen eindringlich vor Augen. Auch in der Sozialistischen Tradition gibt es eine Denkweise, die von Lassalle über Marx bis zu den Sozialisten in Brüssel von dieser Angst geprägt ist und etatistische Vorstellungen nicht zu relativieren vermag. Der konservative Zug dieses bis zur Selbstverleugnung den Staat respektierenden Denkens, der sich zuletzt in der sozialistischen Ostpolitik der achtziger Jahre gegenüber den herrschenden Bürokratien materialisierte, wird in dem Konflikt mit Jelzin immer noch überdeutlich. Zwar sind auch Jelzins Positionen zu widersprüchlich, als daß er als die unbestrittene demokratische Leitfigur in Rußland gelten könnte: Immerhin aber werden durch ihn Weichen gestellt.
Erich Rathfelder
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen