...keine Kontrolle ist besser

■ EG-Kommissar Bangemann geht wieder einmal voran. Heute soll die EG-Kommission sein Konzept zur Gentechnologie verabschieden. Die Industrie darf sich freuen.

...keine Kontrolle ist besser EG-Kommissar Bangemann geht wieder einmal voran. Heute soll die EG-Kommission sein Konzept zur Gentechnologie verabschieden. Die Industrie darf sich freuen.

Aus Brüssel Michael Bullard

Muskelschmerzen, geschwollene Beine und Haarausfall sind die typischen Symptome des sogenannten EMS- Syndroms. Verkrüppelung ist häufig die Folge. Über 1.600 Menschen sollen seit Sommer 1989 Opfer der neuen Immunkrankheit geworden sein, berichtete das Greenpeace-Magazin Ende letzten Jahres. Mindestens 27 von ihnen starben. Sie alle hatten L-tryptophanhaltige Präparate eingenommen.

Die beruhigende und schlaffördernde Wirkung von L-Tryptophan ist seit langem bekannt. Diese lebensnotwendige Aminosäure kommt in Milch vor. Ein Glas davon vor dem Zubettgehen ist deshalb ein altes Hausrezept gegen Schlafstörungen. Entsprechend sorglos verschrieben Ärzte in den USA, Mexiko und Europa ihren ruhesuchenden Patienten die Medikamente. Was sie nicht wissen konnten: Die Grundstoffe der Präparate waren mit gentechnologisch manipulierten Bakterien hergestellt worden.

„Was genau bei der gentechnischen Herstellung von L-Tryptophan schiefgegangen ist, konnte bisher noch nicht geklärt werden“, berichtet das Magazin weiter. Wie in solchen Fällen üblich, stellte sich die japanische Herstellerfirma Showa Denko auf den Standpunkt, der Zusammenhang zwischen der Einnahme ihrer Mittel und dem Ausbruch der verheerenden Krankheit sei wissenschaftlich nicht nachweisbar. Immerhin wurde zugegeben, daß sich bei der Genmanipulation ein Molekül verdoppelt hatte, das Produkt war nur noch zu 99,6 Prozent rein.

Ob die restlichen „verschmutzten“ 0,4 Prozent für die Schmerzen von 1.600 und den Tod von 27 Menschen verantwortlich sind, mag wissenschaftlich nicht zu klären sein. Rechtlich müßten jedoch Schritte unternommen werden, um solche Fälle in Zukunft zu vermeiden. Neben Importkontrollen geht es um die Kontrolle für Produkte, die innerhalb der EG mit gentechnischen Mitteln hergestellt werden.

Doch statt aus diesem Fall zu lernen, wollen die EG-Kommissare dafür sorgen, daß die „Gesundheitspolitik“ der profitablen Art gemeinschaftsweit Schule macht. Thema der allwöchentlichen Eurokratenrunde ist heute die „Förderung der Wettbewerbsfähigkeit industrieller Aktivitäten, die auf der Biotechnologie basieren“. Das Konzeptpapier unter diesem Titel hat Binnenmarktkommissar Martin Bangemann mit seinem für die Unterstützung der Wissenschaften zuständigen italienischen Kollegen Filippo Pandolfi erarbeiten lassen. Gegen seine Verabschiedung wehren sich allerdings noch die Abteilungen Landwirtschaft und Umwelt in der EG-Behörde.

Das Dokument, das die Position der Kommission in Sachen Gentechnologie für Jahre festlegt, liest sich über weite Strecken wie ein Forderungskatalog der Gentech-Industrie (siehe Kasten). Beispiel sozioökonomische Zulassungskriterien für gentechnische Produkte: Die Landwirtschaftsabteilung möchte sicherstellen, daß die Einführung neuer mit gentechnologischen Mitteln hergestellter Produkte wie das Rinderwachstumshormon „r BST“ keine negativen wirtschaftlichen Folgen für die Bauern hat, sprich: den Konzentrationsprozeß beschleunigt. Mit dem Argument, es handele sich dabei nicht um ein wissenschaftliches, sondern um ein politisches Kriterium, wird die Forderung rundweg abgelehnt. Dafür wollen aber Bangemann und Pandolfi das europäische Patentrecht auf lebende Organismen ausweiten, womit die Kontrolle der Gentech-Industrie über Bauern und Züchter erhöht wird. Außerdem soll die EG den Firmen bei der Forschung und Entwicklung neuer gentechnischer Methoden finanziell unter die Arme greifen.

Großen Wert legen die beiden Kommissare auch darauf, daß die EG-Behörde die bereits bestehende Werbekampagne zur Förderung des Ansehens der Gentechnologie in der Öffentlichkeit ausbaut, denn — so behaupten sie — „die Diskussion über die positive Bedeutung, die diese neue Technologie für unseren Lebensstil bietet, ist zum Teil konfus, was das gesamte Klima für die industrielle Entwicklung der Biotechnologie negativ beeinflußt“.

Die eigenen Gesetze unterlaufen

Außerdem propagieren sie eine Arbeitsteilung bei der Gesetzgebung: Die EG soll sich auf die Erarbeitung der allgemeinen Vorschriften für den Umgang mit gentechnischen Produkten und ihre Vermarktung konzentrieren. Die Industrie regelt derweil die Einzelheiten selbst — unter welchen konkreten Umständen beispielsweise ein Freisetzungsversuch stattfinden darf. Dafür hat sie bereits zwei Institute gegründet, in denen nach bundesdeutschem Vorbild standardisiert wird.

Vor allem aber sollen mit der Bangemann-Pandolfi-Initiative die eigenen Gesetze unterlaufen werden. Fast genau vor einem Jahr waren EG- Richtlinien zum Schutz der Umwelt und der Beschäftigten vor gentechnologischen Risiken verabschiedet worden — gegen den erbitterten Widerstand der Gentech-Industrie. Sie müssen noch von den zwölf Mitgliedstaaten bis spätestens 23. Oktober in nationales Recht umgesetzt werden.

Die Gesetze schreiben — im EG- Vergleich zwar relativ hohe, aus Sicht der Kritiker aber ungenügende — Mindeststandards für die Freisetzung von und den Umgang mit gentechnisch manipulierten Lebewesen vor. Ihre wichtigsten Beschränkungen: Sie beziehen sich nur auf „lebende“ Produkte wie Pflanzen oder Impfstoffe und beinhalten lediglich Vorschriften, die den Produktions- und Forschungsprozeß sowie seine Auswirkungen auf die Umwelt und die Beschäftigten regeln.

Die Sicherheit des Produkts für den Konsumenten wird hingegen nur mit den sogenannten produktspezifischen Richtlinien geregelt. Sie bestimmen, ob ein Produkt — beispielsweise ein Pestizid — sicher und effizient genug ist, um vermarktet zu werden. Ihre Kriterien sind allerdings nicht auf gentechnische Verfahren zugeschnitten, sondern allgemeinen Charakters. Aus der Sicht der Gentech-Industrie ist dies natürlich ein Vorteil: Nicht die Art des (möglicherweise gentechnischen) Produktionsprozesses ist ausschlaggebend für die Regulierung, sondern die des Produkts.

Nach dieser Logik sind zum Beispiel die L-Tryptophan-Präparate chemische Produkte und fallen damit nicht unter die Gen-Gesetze — selbst wenn genmanipulierte Bakterien bei ihrer Herstellung eingesetzt werden. Folge: Die Industrie kann sich die wesentlich aufwendigeren Tests und Kontrollen, die für gentechnologische Produktionsprozesse vorgeschrieben sind, sparen.

Daß es sich dabei nicht um Lappalien handelt, dafür liefern Bangemann und Pandolfi die Zahlen gleich mit. Nach ihrem Bericht sind 1985 weltweit biotechnische Produkte im Werte von 15 Milliarden DM verkauft worden, schon das Dreifache der Summe, die zwischen 1980 und 1985 investiert wurde. Für das Jahr 2000 rechnen die Kommissare mit Verkäufen im Werte von 52 bis 82 Milliarden DM. Bis dahin sollen auch — zusätzlich zu den bereits in den Biotech-Branchen der EG bestehenden 15 Millionen Arbeitsplätzen — weitere zwei Millionen geschaffen werden.

Wie diese Entwicklung weitergeht, so legen die beiden Gentech- Fans ihren Kommissarkollegen nahe, hätten diese mit ihrem Votum zu einem bedeutenden Teil zu verantworten. Deswegen „verpflichtet sich die Gemeinschaft, der Industrie nicht unnötige Gesetzesbürden aufzulasten“.

Denn mindestens acht produktspezifische Richtlinien werden in der EG-Kommission zur Zeit vorbereitet. Ob Pharmazeutika, Lebensmittel, Pestizide — bei immer mehr Produkten werden gentechnologische Verfahren angewandt. Dazu müssen neue Vorschriften erlassen werden. Nach welchem Muster dabei vorgegangen werden soll, darüber entscheiden die Kommissare heute. Die Gentech-Kritiker in Kommission und Europaparlament fordern, daß jedes Produkt, das mit gentechnologischen Mitteln hergestellt wurde oder selbst ein genmanipuliertes Lebewesen ist, nach den Vorschriften der vor einem Jahr verabschiedeten Gen-Gesetze behandelt wird. Außerdem sollen parallel zu jeder produktspezifischen Richtlinie spezielle Vorschriften für die mit gentechnischen Mitteln hergestellten Produkte erlassen werden — für Bangemann und Co. eine Zumutung, die sie mit der typischen Arroganz ihrer Eurokratie als „fortschrittsfeindlich“ abtun.