Die Hauptstadtdebatte organisieren!

■ Über die Gefahr, daß Bonn zum "Wandlitz des Westens" wird

Die Hauptstadtdebatte organisieren! Über die Gefahr, daß Bonn zum „Wandlitz des Westens“ wird

Die Hauptstadtdiskussion der SPD-Fraktion war nicht nur ungewöhnlich lang und intensiv, sie hatte auch ein paar ungewöhnliche Formalien: Auf eine Entscheidung, selbst auf ein Meinungsbild wurde verzichtet; vier Bonn- und drei Berlin-Befürworter sowie eine Runde der elderly statesmen durften ihre Argumentationen vortragen. Jochen Vogel legte für diese Debatte den Fraktionsvorsitz nieder, um jeden Verdacht interessengeführter Diskussionsleitung zu unterbinden. Das alles deutet auf einen Tatbestand hin, auf den die Parlamentarier zuallererst hätten reagieren müssen: die politische Entscheidung über den Regierungssitz ist unlösbar verquickt mit den unmittelbaren, egoistischen Interessen der Abgeordneten selbst.

Gleichwohl ist eine solche Jahrhundertentscheidung nur glaubwürdig, wenn diese Interessenlage für alle einsichtig keine Rolle spielt. Konkret: Wie kann vermieden werden, daß es hinterher heißt, die Bonner Abgeordneten hätten sich für das „Wandlitz des Westens“ entschieden? — Alle Parlamentarier, die ein Eigenheim, eine Kanzlei in Bonn besitzen, alle Interessenten aus Nordrhein-Westfalen und alle Berliner Abgeordneten hätten von vorneherein auf Lobbyarbeit verzichten sollen — idealiter müßten sie sich bei der Wahl des Regierungssitzes der Stimme enthalten. In der jetzigen Situation wäre es eine Rettung — im übrigen guter Stil — wenn der Bundestag über seinen lobbyistischen Schatten springt und die Debatte organisiert, in die Thesen zum Föderalismus, zur deutschen Identität, zum Nationalstaat, die Frage des Ostens und der Vereinigung eine Rolle spielen. Es gibt die Übung des Bundestags-Hearing; das, oder eine große Konferenz, ist ein unverzichtbarer Schritt, um den Streit aus dem Schatten zu manövrieren.

Ein Argument verbindet die Lobby mit der allgemeinen Politik. Der SPD-Abgeordnete Dressler hat es am Dienstag wieder vorgebracht: Die Entscheidung für Bonn sei ein Bekenntnis zu unserer funktionierenden Demokratie. Gewiß, angesichts der Wirren und Ängste der deutschen Vereinigung und angesichts der autoritären Identifikation der Ostdeutschen fällt ein vergoldender Abendglanz auf die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik. Aber mit der Vereinigung ist auch die Bundesrepublik untergegangen. Jedes Signal, das diese Tatsache deutlich macht, ist richtig. Genau an solchen Signalen mangelt es.

Die Bonner Demokratie, die institutionell, rechtlich, wirtschaftlich und sprachlich die Ex- DDR eingemeindete, ist nicht mehr dieselbe. Die Demokratiefrage ist neu gestellt. Es ist ein entscheidender politischer Unterschied, ob sich die Ostdeutschen der Bonner Demokratie anpassen, wie sie sich dem Realsozialismus angepaßt haben, oder ob sie wenigstens die Idee eines gemeinsamen Neuanfangs vor Augen haben. Nostalgie jedenfalls kann keine Grundlage für Politik sein. Aber genau das ist an den saturierten Ufern des Rheins nur schwer begreifbar. — Das zu begreifen, wenigstens, sollte man den Abgeordneten zumuten. Klaus Hartung