: Italiens Kicker zwischen Koks und Kirche
Die große Krise des nationalen Spektakels: Doping, Rauschgift, Gebetszwang, müde WM-Helden, eine Gouvernante für Juventus Turin — und „tanti, tanti sentimenti“ ■ Aus Rom Werner Raith
So recht weiß eigentlich niemand, wie man so völlig unversehens in die größte aller bisherigen Krisen des „Calcio italiano“ geraten konnte, jenes Spektakels, das jeden Sonntagnachmittag Millionen von Familienvätern zu Bestien werden läßt, wenn man ihnen das ans Ohr gepreßte Transistorradio nimmt oder sich Gemahlinnen nicht genügend über Schiedsrichterirrtümer empören.
Vor einem Jahr, die WM stand gerade bevor, schwelgten fünfzig Millionen Südstaatler noch im Achten Himmel — jenem, der allein den Balltretern vorbehalten ist — mit dem Gewinn sämtlicher europäischer Trophäen, von UEFA- bis Landesmeister-Cup. Dann stieß man auch noch nahezu ungehindert, wenn auch deutlich von Glück und Schiedsrichter begünstigt, ins WM- Halbfinale vor — doch da kam nun der große Knacks mit der Niederlage gegen Argentinien.
Seither jagt im nationalen Prestigesport, zumindest was die großen Hoffnungs- und Sympathieträger angeht, ein Skandal den anderen, wechseln einander geradezu absurde Ereignisse ab, finden sich Kicker unversehens in juristischen oder sentimentalen Intrigen wieder, die es bis dahin noch nie gegeben hatte.
Sicher: Bestechungsaffären gab es auch vordem, ebenso Rückstufungen in untere Klassen wegen Bankrotts des Vereins; doch was nun auf die Fans („Tifosi“) hereinbricht, ist ohnegleichen. Bereits im Herbst vorigen Jahres, Dopingtests wurden gerade erstmals erprobt, wurden zwei Nationalheroen, darunter WM- Teilnehmer Andrea Carnevale, wegen Einnahme von Aufputschern für zwei Jahre gesperrt, ein Untersuchungsrichter hat gegen die Spieler und gegen den verabreichenden Arzt gar ein Verfahren wegen Arzneimittelmißbrauchs eingeleitet.
Dann, zu Jahresanfang, die spektakuläre Enthüllung über das zwar importierte, aber dennoch allseits gehätschelte „Goldbübchen“ (Pupo d'oro) Diego Armando Maradona: Nicht nur, daß er, wie bereits bekannt, eine Reihe außerehelicher Kinder produziert hatte, nein, nächtelang soll er es auch gleichzeitig mit mehreren Callgirls getrieben haben. Bei solchen Gelegenheiten soll er auch kräftig Kokain geschnupft, ja möglicherweise sogar selbst verteilt und damit gegen das Drogengesetz verstoßen haben.
Was freilich für gestandene Fans und BewunderInnen noch gar nicht mal das schlimmste war, schließlich handelte es sich um die Schickeria- Droge und nicht ums banale Heroin. Doch da begannen auch noch einige der Damen, die eine im camorristischen Ambiente verankerte Vermittlerin dem Superstar zugeführt hatte, aus dem Nähkästchen zu plaudern und fanden den am Ball so Umjubelten im Kuschelbettchen „ausgesprochen durchschnittlich, wenn nicht darunter“ — das Todesurteil für ein Männchen in Italien. Maradona floh, angeblich wegen der eingeleiteten gerichtlichen Verfolgung und der drohenden Sperre, ins heimische Argentinien — in Wirklichkeit scheinen ihn aber eher böse Zurufe wie „Schlappschwanz“ geschafft zu haben, die ihn immer öfter erreichten und von denen auch gegnerische Spieler während des Matches Gebrauch machten.
Späte Rache für das WM-Halbfinale
Kaum hatten die meisten Medien und auch der überwiegende Teil der Tifosi den einstigen Star abgehakt, die argentinische Presse, wenngleich selbst sehr Maradona-kritisch, den Fall als „späte Rache für unseren Sieg bei der WM gegen die Italiener“ eingestuft, da erschütterten neue Erdbeben die Tifoserie südlich der Alpen: In Marseille gerierten sich die Mailänder beim Europapokal derart böse, daß die Mannschaft, voriges Jahr noch Cupsieger, für ein Jahr von allen europäischen Turnieren ausgeschlossen wurde.
Kaum war der entsetzte Mund wieder mit der übliche Tröste-Pasta geschlossen, der neue Hammer: Bei der Partie von Juventus Turin gegen Florenz weigerte sich das unbestrittene Ballgenie Roberto Baggio, einen Elfmeter zu treten — er hätte seiner „Juve“ den Sieg, doch der Stadt seiner Herkunft Firenze die Niederlage gebracht. Ein Fall, der seither Millionen Fußballsachverständige zu zerreißen droht: Jeder Italiener weiß, daß es Verrat ist, gegen die Seinen Böses zu tun, doch welches sind die Seinen in diesem Falle? Florenz, das Klein-Roberto einst hochgepäppelt hat, oder Turin, dessen Chef Fiat-Agnelli voriges Jahr satte 30 Millionen DM für den Star ausgegeben hatte? Die Preise für Heimatverrat müssen wohl künftig nach oben korrigiert werden. Den Reporter des staatlichen Fernsehens 'RAI‘ überkamen da gleich „tanti tanti sentimenti“, so, so viele wehmütige Gefühle und Erinnerungen an einen „Fußball, bei dem der Sport noch im Mittelpunkt stand und nicht Geschäft oder chauvinistisches Denken“.
Und wieder war das noch nicht der Endpunkt fußballerischer Abstiegstendenzen. Ein neuer Fall erschütterte die Welt der Kicker und ihrer Gefolgsleute: Pietro Paolo Virdis, seit jeher querdenkerischer Sarde, hatte sich geweigert, mit den Kameraden seiner derzeitigen Mannschaft Lecce zur Ostermesse zu gehen. Obwohl Katholik und sonst des öfteren mit seinen Sportsfreunden bei der Kommunion, widerstrebte ihm das Gemeinschaftsgebet diesmal; hatte er doch den mächtigen Verdacht, der fromme Pole Boniek, Trainer von Lecce, wolle hier einen Bittgang zum Lieben Gott zwecks Abwendung des Abstiegs in die zweite Liga unternehmen, „und dafür gebe ich meinen Glauben nicht her“.
Boniek schickte den Widerspenstigen sofort in die Umkleidekabine und schloß ihn von der Mannschaft aus. Nach Virdis Erinnerung soll er ihn auch noch handgreiflich angegangen haben, doch Boniek meint, er habe ihn, weil im Grase sitzend, nur am Hemd hochgezerrt, und weggeschickt habe er ihn auch nur wegen schlechter physischer Form. Das allerdings stößt auf gewisse Zweifel — das Training hatte noch gar nicht begonnen, die Kondition des Spielers war also noch nicht abzusehen. Seither rangeln Gewerkschaft, Menschenrechtler und Vereinsjuristen um eine Klärung und Lösung des Falles.
So wartet denn die Fußballergemeinde bereits bang auf die nächsten Tiefschläge. Die Pokale laufen derzeit eher mies, die Sympathieträger der WM und der Zeit davor sind verbraucht. Bestes Beispiel der damals so gefeierte Senkrechtstarter Toto Schillaci aus Sizilien: Er bringt für Juventus Turin seit Monaten keinen Ball mehr ins Tor und sitzt meist auf der Ersatzbank. Ersatzweise drohte er gegnerischen Spielern schon mal, sie um die Ecke bringen zu lassen, wenn sie nochmal...
Fiat-Chef Agnelli, dem ein Gutteil der nationalen Heroen gehören, will nun dafür sorgen, daß zumindest in seiner ehemals stets für den FairPlay-Pokal guten Mannschaft solche Dinge nicht weiter einreißen. „Vielleicht“, so spottete ein Kommentator im staatlichen Fernsehen, „sollte er zu diesem Zweck weniger neue Balltreter einkaufen, sondern ein paar Erzieher und vertrauenswürdige Gouvernanten“. Agnelli hat das mit großem Ernst aufgenommen und versprochen, in diesem Sinne wirken zu wollen — höchstselbst; sein Interessensverweser in der Leitung des Vereins, der WM-Organisator Luca de Montezemolo, scheint ihm da offenbar nicht der rechte Garant.
Ein zwielichtiger König des Mineralwassers
Ob das der Liga insgesamt das verlorene Prestige wiederbringt, ist eher fraglich. Denn was sich sonst noch außerhalb des grünen Rasens bewegt, ist nicht gerade geeignet, neues Vertrauen aufzubauen. So hat sich der große Traditionsverein AS Rom nach dem Tode seines langjährigen Präsidenten Dino Viola gerade an einen Mann namens Giuseppe Ciarrapico verkauft. Der ist berühmt als „König des Mineralwassers“, seit er in Frosinone südlich der Hauptstadt das landesweit größte Getränkekombinat zusammengeschoben hat. Das Geld dazu hatte er sich in den 70er Jahren von der Mailänder „Banco Ambrosiano“, Besitztum der kriminellen Geheimloge „Propaganda 2“, geliehen — kurz bevor das Geldinstitut mit 1,2 Milliarden Dollar Schulden Pleite ging. Ciarrapico steht deshalb derzeit unter Anklage wegen Beteiligung an betrügerischem Bankrott.
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