Stadt-Bordell für Leipzigs Huren

Westzuhälter und kriminelles Milieu: Die Wende veränderte auch die Prostituiertenszene. Immer mehr Frauen gehen auf den Strich, werden dort bedroht und erpreßt. Jetzt fordern die Prostituierten ein kommunales Bordell.  ■ U. Helwerth/B. Mika

Auf dem Asphalt liegt ein Mann. Liegt auf dem Rücken, regt kein Glied. Scheinwerfer leuchten ihn aus: den großen grauen Kopf, den kräftigen Leib in Jeansjacke und -hose, den einen Arm leicht angewinkelt auf dem Bauch, den anderen von sich geworfen auf dem Boden. Zwölf, fünfzehn Taxen stehen um ihn herum. Gruppiert wie ein Stern, zeigen sie mit ihren Schnauzen auf ihn, überziehen ihn mit ihrem Hallogenlicht. Die Motoren laufen.

Ein Benz gibt Gas, der nächste auch. Die Autos verknäulen sich, schieben sich aneinander vorbei, verschwinden nach links und nach rechts von dem kleinen Parkplatz. Der Mann liegt allein. Wenige Meter hinter ihm eine betonverschmierte Mauer, dahinter der Schattenriß eines Kühlturms. Dampfschwaden quellen hervor. Sie sättigen die Luft mit Nässe und legen Schleier um das Laternenlicht. Leipzig, Roscherstraße: Straßenstrich.

Der Mann öffnet den Mund. Ächzt. Er stemmt die Arme auf den Boden und zieht den Oberkörper hoch. Eine Hand greift an den Kopf, dort wo die Haut aufgeplatzt und blutig ist. Er versucht auf die Beine zu kommen als ein metallicblauer Ford Capri neben ihm hält. „Was machst du denn auch für 'ne Scheiße?“, tönt es aus dem Inneren. Jung und dunkelhaarig lehnt sich ein Typ aus dem Wagenfenster. „Kannst froh sein, daß dir nicht mehr passiert ist.“

Der andere reagiert nicht. Er klaubt zusammen, was ihm aus den Taschen gefallen ist und wankt davon. „Ich hab damit nichts zu tun,“ erklärt der Dunkelhaarige. „Der da“, zeigt er dem Torkelnden hinterher, „hat einem Taxifahrer das Messer an die Kehle gehalten, wollte seine Kohle. Der Fahrer hat ihm eins mit dem Ellenbogen versetzt und dann seine Kollegen um Hilfe gerufen. Die in der Nähe waren, sind gleich gekommen und haben dem was verpaßt. Der dachte wohl, hier auf'm Strich könnte er sein Ding besser abziehen.“

Mit offenem Fenster fährt der Ford langsam durch die Roscherstraße. Rechts hinter der Mauer das Energiekombinat mit seinen Türmen und dem Gasbehälter aus dreckigem Klinker. Vor der Mauer jede Menge Wohnwagen und Frauen. Nur zwei, drei Schritt von ihrem mobilen Arbeitsplatz entfernt stehen sie und warten auf Freier. Und die Luden warten mit, im warmen Auto, immer in ihrer Nähe: Westluden.

Strich ist Strich, dachte sich diese Spezies von Mann. Und Nutte ist Nutte. Die Geschäfte im Westen gingen nicht so gut, der Osten lockte mit kaum beackertem Boden und siechen Behörden. Kurz nach der Wende machten sie sich auf. Was sie an Frauen nicht mitbrachten, wollten sie sich drüben zulegen.

Zum Beispiel in Leipzig. Die Stadt hatte ihre Gäste schon immer mit reichlich Frauen versorgt. Wenn die Messetore öffneten, reisten sie aus der ganzen Republik an und verstärkten die 200 einheimischen Prostituierten. Es gab Devisen zu verdienen. Sie arbeiteten im Hotel Metropol, in Nachtbars oder auf dem Strich. Aber immer auf eigene Rechnung. Die Stasi profitierte zwar, auch die Portiers und die Männer hinter den Tresen. Doch Zuhälter, die sie kontrollierten und zur Arbeit preßten, hatten die Frauen in realsozialistischen Zeiten nicht.

Die Huren vor den Wohnwagen schaffen alle für den Luden an. Eine, die einen weißen Overall als Außenhaut trägt, wirft schnell einen Blick nach hinten. Dann erst antwortet sie: „Nein, ich bin nicht aus Leipzig, aus Frankfurt. Warum soll ich hier nicht arbeiten? Die Männer hier wollen doch auch bumsen.“

Wer bumsen will und die Roscherstraße bis zum Ende fährt, dort, wo die Bahn auf dicken Pfeilern die Straße überbrückt, trifft weitere Frauen im Dienst. Vereinzelt aber nur und ohne Wohnwagen. Überwiegend in Ostmode und weniger auf Nutte getrimmt erwarten sie die Freier. Niemand bewacht sie. Nur eine Frau in schwarz-weißem Fellmantel steht neben einem Wartburg. Hinter den geschlossenen Fenstern glimmt es ab und zu auf.

So, daß sie die Straßenkreuzung überblicken kann, lehnt ein Mädchen an einer der gemauerten Streben. Sie trägt Jeans und eine Jacke und sieht aus wie 18. Sie ist 22 und wenn sie arbeitet, heißt sie Lou Lou. „Mir sind Angebote gemacht worden, zuerst ohne Gewalt. Daß ich für einen Ostzuhälter arbeiten soll, für 200 Mark Standgeld. Daß sei doch viel besser als für den Westzuhälter, bei dem ich die Hälfte abgeben müßte.“

Als der Arbeiter-und-Bauern- Staat noch in Agonie zuckte, machten sich einige Ostmänner sofort daran, das in ihre Hände zu kriegen, was als Ware leicht verkäuflich war: Frauen. Sie bedrohten die professionellen Huren und zogen sich Anfängerinnen heran. Die sozialistischen Mechanismen der Überwachung funktionierten nicht mehr und eine neue Ordnung gab es noch nicht. Aber eine Marktlücke.

Doch wo die Gesetze des Marktes gelten, siegt der, der die Macht hat und die Regeln besser beherrscht. Unter Luden heißt das: wer zuerst zuschlägt oder -sticht, brutaler droht, wer erfolgreicher mit Erpressung und Gewalt Frauen und Terrain sichert. „Bald nach der Wende tauchten hier sehr viele Westzuhälter auf. Meistens aus Heidelberg und Mannheim. Sie wollten Territorium gewinnen, wo sie ihre Westprostituierten verkaufen können.“ Lou Lou deutet mit dem Kopf dorthin, wo die Wohnwagen stehen. „Das hat unseren Ostzuhältern natürlich nicht gepaßt. Aber die Wessis waren einfach stärker: Sie hatten mehr Waffen, mehr Muskeln, mehr Schlägertypen.“

Krieg der Zuhälter in Leipzig: Schwere Körperverletzung, Vergewaltigung, Erpressung und Raub. Die Ostluden steckten Wohnwagen in Brand und besorgten sich Waffen. Die Westluden hatten die schon und dingten sich als Verstärkung ganze Skinbanden als Schlägertrupps — das kriminelle Milieu nahm endgültig vom Strich Besitz.

Neben Lou Lou hält ein Wagen mit Westnummer. Sie beugt sich zum Fenster, verhandelt, schüttelt den Kopf, das Auto fährt weiter. „Das ist der Vorteil, daß ich frei arbeite. Wenn mir einer nicht gefällt, sage ich entweder einen so hohen Preis, daß er von allein abwinkt, oder behaupte, daß ich verabredet bin.“

Die Westluden kontrollieren inzwischen fast den ganzen Strich und lassen auch noch Ostluden für sich arbeiten. Vor allem für unabhängige Frauen ist die Roscherstraße gefährlich geworden. „Ich bin von Westzuhältern angesprochen worden. Sie wollten, daß ich für sie arbeite, ohne Bedingungen zu nennen. Als ich mich geweigert hab, sind sie mal mit richtigen Säbeln, mal mit Küchenmessern auf mich losgegangen. Auch mit Schlagstöcken. Einmal sind sie mit dem Auto auf mich zugerast, ich konnte aber zur Seite springen. Bisher ist mir immer die Flucht gelungen, mit meinem eigenen Auto oder mit Freiern. Aber es war oft kritisch und ich hab jetzt Angst, wenn ich hier alleine stehe. Ich fänd es gut, wenn die Polizei mehr Streife fahren würde.“ Schon ein paar Mal ist ein Ostauto an der jungen Hure vorbeigefahren. Jetzt hält es. Lou Lou redet, lacht, steigt ein.

Die Leipziger Polizei kann die Frauen nicht schützen. Hauptkommissar Schwitzke, zuständig für „Straftaten gegen Leben und Gesundheit“ ist ein überforderter Mann. „Wir sind noch in der Umstrukturierungsphase, wir haben noch nicht einmal ein Polizeiaufgabengesetz. Und dann mußten wir uns im Westen erst sachkundig machen. Früher war das bei uns eigentlich kein krimineller Bereich. Prostitution war zwar verboten, wurde aber stillschweigend geduldet. Da haben die Frauen aber frei gearbeitet. Das Problem sind die Zuhälter.“

Monatelang konnten die Luden in Leipzig in einer Grauzone operieren, und sich vor der Polizei sicher wähnen. Dann, vor einigen Wochen, eine Razzia: „Die meisten Frauen und die, die wir für Zuhälter hielten, kamen aus dem Westen. Aber auch hier gibt es sehr viele Neuzugänge.“ Schwitzkes „Neuzugänge“ sind Hunderte von Ostfrauen. Frauen, die arbeitslos geworden sind, Frauen, deren Männer den Job verloren haben und die jetzt anschaffen, um die Familie zu ernähren. Es sind Studentinnen, Angestellte, Bürokräfte, Hausfrauen. Die genauen Zahlen kennt niemand, aber die 200 vor der Wende haben sich mindestens verdoppelt, vermutet Schwitzke. Die Not treibt viele auf die Straße, manche lockt das schnelle Geld.

Lou Lou hat sich von ihrem Freier zurück in die Roscherstraße bringen lassen. Etwa eine Stunde war sie weg, hat 150 Mark verdient. „Reizvoll ist, daß du in schneller Zeit viel Geld verdienen kannst. Dann, daß du eine unwahrscheinliche Menschenkenntnis bekommst. Du lernst so viele Männer kennen, die bei dir ihr Herz ausschütten und dir alles mögliche erzählen.“

Lou Lou ist hübsch wie ein Schulmädchen, mit einem vollen Gesicht und blonden Haaren im Pferdeschwanz. „Ich versuche, sehr zärtlich zu den Männern zu sein, versuche sie daran zu erinnern, daß Sex eine Sache sein kann, die mit sehr vielen positiven Emotionen verbunden ist. Ich hoffe sehr, daß sie die Zärtlichkeit, die ich ihnen gebe, dann auch in ihre Familien tragen. Viele Männer brauchen einfach auch mal jemand, der mit Abstand, aus einer anderen Perspektive einen Rat gibt, ihnen zuhört. Aber bezahlen lasse ich mich nur für meine sexuellen Dienstleistungen.“ Lou Lou, die Kindfrau, die Hure, die in rundes Fleisch gegossene Männerphantasie. Seit einem halben Jahr versteht sie sich dreimal die Woche nachts als Sextherapeutin, fünf mal die Woche tags ist sie Therapeutin in der Psychiatrie.

Die Doppelarbeit ist hart. Lou Lou will umsteigen, nur noch anschaffen gehen. Aber Sozial- und Krankenversicherung gibt es nicht für Huren. Gleichberechtigt sind sie nur beim Finanzamt, das knöpft auch ihnen Steuern ab. Außerdem hat sie Angst vor den Luden, dem kriminellen Milieu, die Bedingungen werden jeden Tag schlechter.

Die Roscherstraße wird ruhiger, immer weniger Autos, weniger Freier. Die Hure im schwarz-weißen Mantel ist zu ihrem Luden in den Wartburg gekrochen. Er hat eine Zigarette, einen blonden Bart und ist hier der einzige Ostzuhälter. Zur Verdrängung durch die Wessis hat er „nichts zu sagen“. Als die Frau neben ihm den Mund aufmachen will, kurbelt er das Fenster hoch.

Im März hat Lou Lou mit zwei Kolleginnen, Freiervertretern, einem Stricher und einigen politisch und kulturell arbeitenden Menschen in Leipzig den „Mende e.V.“ gegründet. „Wir wollen ein kommunales Bordell: ein Haus, das uns die Stadt vermietet, wo sich jede Prostituierte ein Zimmer nehmen und arbeiten kann. Unabhängig. Ohne Zuhälter, ohne ChefIn.“ Sie wollen mit dem Gesundheits- und dem Gewerbeaufsichtsamt zusammenarbeiten. Auch mit der Polizei. Sie wollen einen Sozialfonds für Notfälle einrichten, Frauen beraten, die aussteigen möchten. Und vor allem wollen sie, daß Prostitution als ganz normaler Beruf anerkannt wird, vom Arbeitsamt, von den Versicherungen.

Nicht nur die Frauenbeauftragte im Leipziger Rathaus, Stachorra, und die sächsische Landtagsabgeordnete, Matzke vom Bündnis 90 finden diese Idee akzeptabel. Alle zuständigen Stellen im Rathaus haben sich in einer ungewöhnlichen Koaliton für dieses Bordell zusammengefunden: der Dezernent für Sicherheit und Ordnung, die Leiter vom Gewerbe- und Gesundheitsamt, die Polizei. Natürlich haben sie noch anderen Interessen als die Huren: das Milieu und sein Umfeld besser zu überwachen, der Kriminalität einen Riegel vorzuschieben, gesundheitspolitisch leicht kontrollieren zu können. Aber das ist dem „Mende e.V.“ nicht so wichtig. Wichtiger ist, den Luden nicht mehr ausgeliefert zu sein.

Lou Lou hat für heute genug. Genug Männer, genug Geld. Der Strich reizt sie, trotz aller Angst, aber erst für das Bordell würde sie ihren bürgerlichen Beruf aufgeben. „Ich habe auf dem Strich sehr viel gelernt, was ich für meine Tagesarbeit als Therapeutin gebrauchen kann. Mir macht das Spaß. Ich finde es auch nicht krankhaft, sich eine Frau zu kaufen. Krank wird man nur, wenn man die vielen sexullen Wünsche unterdrückt. Ich vermiete ja nur meinen Körper. Wenn das von beiden Seiten als schön, als gut, als nutzbringend empfunden wird, ist das eine gesunde Sache.“ Sie, die Therapeutin, muß es ja wissen.