Brüssel: Freie Fahrt für die Gentechnologie

Brüssel (taz) — Die Lobby der Gentechnologen kann sich ins Fäustchen lachen: Gestern überzeugte der deutsche Binnenmarktkommissar Martin Bangemann zusammen mit seinen Kollegen Pandolfi aus Italien und Mac Sharry aus Irland die anderen 14 Kommissare, einen Forderungskatalog der Industrie-Lobby einfach als Grundsatzdokument der EG-Kommission in Sachen Gentechnologie zu übernehmen. Um die Wettbewerbsfähigkeit dieses „Industriezweigs der Zukunft“ (Eigenwerbung) zu fördern, beschlossen die Eurokraten ein Positionspapier, in dem sie sich auf Jahre verpflichten, der Gentech-Industrie „nicht unnötige Gesetzesbürden aufzulasten“. Die Grünen im Europaparlament (EP) lehnten das Kommissionskonzept „in Gänze“ ab: „Noch bevor die vor einem Jahr von der EG verabschiedeten Gesetze zu genmanipulierten Organismen von den Mitgliedsstaaten umgesetzt sind, scheint die EG-Kommission alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen, um sie wertlos zu machen.“ Denn die Richtlinien für die Freisetzung von und den Umgang mit gentechnisch manipulierten Lebewesen in die Umwelt und in geschlossenen Labors bleiben nach dem gestern beschlossenen Konzept zwar bestehen. Ihre Vorschriften sollen jedoch umgangen werden können. Die Industrie und mit ihnen die Kommissare setzen statt dessen auf Richtlinien, die nicht den Forschungs- und Herstellungsprozeß, sondern das Endprodukt im Auge haben. Die Kriterien für diese Produktrichtlinien sind allerdings nicht speziell auf gentechnische Verfahren zugeschnitten, ersparen der Industrie also teure Tests und Kontrollen.

Zwar wachse parallel zur ansteigenden Zahl der mit gentechnischen Mitteln hergestellten Produkte wie Pharmazeutika, Lebensmittel oder Pestiziden auch das Risiko für die Verbraucher und die Umwelt, warnen die Grünen. Doch die Binnenmarktfetischisten hätten eben das Wohlergehen der Gentech-Industrie im Auge. Dies zeige sich auch am Beispiel der vom EP seit langem geforderten sozioökonomischen Zulassungskriterien für gentechnische Produkte.

Nachdem Bangemann ursprünglich vorhatte (siehe taz vom 17. April), die Forderung rundweg abzulehnen, beschlossen die Kommissare nun, diese Kriterien in nicht näher spezifizierten Ausnahmesituationen zuzulassen. „Unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit“, so das Fazit der Grünen, „wird die Öffentlichkeit systematisch von politischen Grundsatzentscheidungen ausgeschlossen.“ Michael Bullard