Viele verlassen das sinkende Schiff

Die Umstellung auf das westliche Gesundheitssystem hat die Polikliniken in eine katastrophale Situation hineinmanövriert/ Viele ÄrztInnen versuchen ihr Glück mit einer eigenen Niederlassung  ■ Von Gunhild Schöller

„Die Situation an den Polikliniken ist explosiv, und es ist nur unserem Idealismus zu verdanken, daß wir hier noch arbeiten.“ Hans Walther, Leiter der Hauptpoliklinik in Potsdam, ist empört und gleichzeitig fassungslos darüber, welche Konsequenzen die deutsche Einheit für ihn als ambulant tätigen Arzt hat.

Zugelassen sind diese ÄrztInnen nur noch bis 1995 — so wurde es im Vertrag zur deutschen Einheit niedergeschrieben. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß bis dann eine flächendeckende Versorgung durch niedergelassene ÄrztInnen gewährleistet ist. Sollte dies — wider Erwarten — nicht der Fall sein, können die Polikliniken weiterarbeiten. Gleichzeitig wurde mit der deutschen Einheit die westliche Form der Leistungsabrechnung in den Polikliniken eingeführt — ein System, das für viele Menschen auf die schnelle nicht durchschaubar ist und deshalb bedrohlich erscheint.

Unausweichlich ins Aus getrieben sieht Klinikchef Hans Walther „seine“ Poliklinik durch die Fallpauschale, die vereinbart wurde zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Danach kann die Poliklinik bei den Krankenkassen pro PatientIn im Quartal nur 55 DM in Rechnung stellen — völlig unabhängig davon, wie oft er oder sie kommt und welche Leistungen erbracht werden.

„Unbegreiflich“ findet Hans Walther diese Fallpauschale. Er weiß, daß er damit niemals wird wirtschaftlich arbeiten können. Gleichzeitig ist die Dreiteilung der Versicherungen in Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung noch weitgehend unbekannt. Bei letzterer wird — im Gegensatz zu den Krankenkassen — leistungsunabhängig abgerechnet.

Zukunft des Hauses ist zu unsicher

„In welcher Krankenkasse sind Sie?“ fragt die Krankenschwester einen Mann, der sich bei der Arbeit das Bein gebrochen hat und nun direkt vom Bau zum Chirurgen Hans Walther in Behandlung kommt. „In der IG Metall“, lautet die Antwort. Das sei etwas anderes sagt die Schwester. Ob er in der AOK sei? Er jedoch hat davon noch nie gehört. Tatsächlich zuständig ist bei einem solchen Arbeitsunfall aber nicht die AOK, sondern die Unfallversicherung der Berufsgenossenschaft. Daß es so etwas überhaupt gibt, ist allen Beteiligten unbekannt.

Neu und schwierig für den Betrieb einer Poliklinik ist auch die Tatsache, daß erst zu Ende des Quartals abgerechnet wird. Die Kommunen als Trägerinnen der Polikliniken müssen deshalb eine finanzielle Vorleistung bringen — aber diese stehen in den ostdeutschen Ländern häufig selbst kurz vor der Pleite. 2,8 Millionen DM beantragte die Poliklinik Potsdam beim Magistrat der Stadt als monatliche Betriebskosten — bewilligt wurde im Januar nur die Hälfte. Klinikchef Hans Walther weiß nicht, wovon er die Löhne und Gehälter bezahlen soll — sie allein betragen pro Monat 1,7 Millionen DM. Auch die Rechnungen für Heizung, Strom, Verbrauchsmaterial und Wartung der Geräte bleiben zur Zeit alle unbezahlt.

„Die Ärzte gehen nun weg, weil die Zukunft des Hauses so unsicher ist“, stellt er fest. Zwei Ärzte verließen die Potsdamer Poliklinik bereits im Januar, acht weitere folgten ihnen im April. Gleichzeitig ist im Vertrag über die deutsche Einheit festgeschrieben, daß freigewordene Stellen in den Polikliniken nicht durch FachärztInnen neu besetzt werden dürfen. In der Potsdamer Poliklinik, in der 135 ÄrztInnen aller Fachrichtungen arbeiten, versucht man, durch Umschichtung die entstehenden Lücken zu schließen. Aber dies ist immer schwieriger. So haben zum Beispiel zwei von vier Hals-Nasen- Ohren-Ärzten die Poliklinik verlassen.

„Die Ärzte stürzen sich in die freie Niederlassung und damit in Schulden“, sieht Klinikchef Walther diesen Schritt seiner KollegInnen. Sich niederzulassen ist in den neuen Bundesländern tatsächlich wesentlich schwieriger als in der „alten“ Bundesrepublik. Die erste große Hürde ist, überhaupt Gewerberäume zu bekommen. Die Mietforderungen sind häufig völlig überzogen, einem Kauf stehen oftmals ungeklärte Eigentumsverhältnisse entgegen. Außerdem bekommt ein niedergelassener Arzt in den fünf neuen Ländern von den Krankenkassen nur 61 Prozent des Honorars, das er für die gleiche Leistung im Westen in Rechnung stellen könnte. Gleichzeitig sind die Kosten für die Einrichtung und medizinisches Gerät selbstverständlich auf Westniveau.

Viele der ÄrztInnen, die sich nun niederlassen, werden schon allein aufgrund ihres Alters Schwierigkeiten haben, die hohen Kosten einer Praxisneugründung wieder zu erwirtschaften. Viele, die sich jetzt niederlassen, treibt auch die Angst vor dem Jahr 1992. Dann nämlich dürfen auch ÄrztInnen aus dem Westen in den fünf neuen Ländern eine Praxis eröffnen. Die ÄrztInnen aus der ehemaligen DDR müssen sich also sputen, wenn sie ihre Praxis bei den Patienten noch rechtzeitig einführen wollen.

Bei Mietrückstand fristlose Kündigung

Das sinkende Schiff Poliklinik Potsdam verlassen nun auch die Krankenschwestern. „Wenn ich in West-Berlin arbeite, habe ich tausend Mark mehr im Monat, das Gehalt ist sicher und der Arbeitsplatz auch“, bekommt Hans Walther von seinen Krankenschwestern zu hören. Seinen Dienst muß er seitdem oftmals mit nur zwei Schwestern versehen — Wartezeiten von drei bis vier Stunden für die PatientInnen sind die Folge.

Zuspitzen wird sich in absehbarer Zeit auch die Lage in den zahlreichen Außenstellen der Potsdamer Poliklinik. 56 solcher Stützpunkte sind über das gesamte Stadtgebiet verstreut, und nicht wenige haben Verträge mit privaten Vermietern. Zur Zeit kann diese Miete nicht gezahlt werden — laut Vertrag ist nach zwei Monaten Mietrückstand die fristlose Kündigung möglich. Die Stadt Potsdam als Träger der Poliklinik wäre eigentlich verpflichtet, diese Miete zu übernehmen — aber dort sind die Kassen leer.

Seine eigene berufliche Zukunft sieht der Chirurg Hans Walther „sehr trübe“. Er habe „kein Haus und keinen Grundbesitz, da kann ich mich mit 52 Jahren nicht mehr niederlassen, ohne mich und meine Kinder hoch zu verschulden.“ Er fühlt sich „verschaukelt, so wie meine ganze Altersgruppe verschaukelt wird“. Was da ihm, seinem Haus und den Kollegen widerfährt, versteht er nicht. „Wir gehen kaputt, dabei wollen wir doch nur arbeiten und auch existieren.“