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Unerfahren mit anderen Kulturen

■ Türkische Eltern aus Kreuzberg und deutsche Eltern aus Ost-Berlin an einem Tisch/ Gegenseitige Vorurteile der Kinder und Jugendlichen ist Thema des Erfahrungsaustausches

Berlin. Kreuzberg 2000: Türkische und deutsche Kinder gehen Hand in Hand durch die Straßen, lachen, toben und spielen gemeinsam in einem wiedervereinigten Berlin ohne Ressentiments und Vorurteile. Dieser Vision widmeten sich am Donnerstag abend türkische Eltern und Eltern aus Ost-Berlin bei einem Treffen im Türkischen Elternverein in der Oranienstraße. Der Anlaß des Abends war wenig erfreulich: Seit dem Wegfall der Mauer kommt es in SO36 zunehmend zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Schülern der Friedrich-Ebert-Grundschule auf der Ostseite der Adalbertstraße und überwiegend türkischen Kindern von den gegenüberliegenden Westgrundschulen.

Im Vordergrund des Gesprächs stand der Austausch von Erfahrungen. Türkische Eltern berichteten, daß sie sich im Ostteil der Stadt bedroht fühlten. Ihre Angst vor Ausländerfeindlichkeit und gewalttätigen Übergriffen sei inzwischen stärker als ihre Neugierde auf den Ostteil Berlins. Auf seiten der Eltern aus dem Osten wurden ähnliche Vorbehalte deutlich: »Ich würde auch nicht alleine durch die Oranienstraße gehen«, gestand eine Mutter. »Es ist mir fürchterlich fremd hier.« [Ach nee: Aber Urlaub im Ausland machen wollen! d. säzzer]

Nicht »immer nur von Ängsten zu reden, sondern sich um das gegenseitige Kennenlernen zu bemühen«, forderte ein Klassenlehrer aus dem Ostteil. Er hat die ersten Schritte bereits gemacht: Mit drei Klassen besuchte er vor einiger Zeit in SO36 ein türkisches Theaterstück, um den Kindern so das gänzlich Neue nahezubringen. »Die Kinder bei uns sind nicht ausländerfeindlich, sondern einfach vollkommen unerfahren mit anderen Kulturen. Deswegen können sie mit allem Fremden nicht umgehen«, faßt er seine Erfahrungen zusammen. Auch türkische Kinder sind gegenüber den Ost-Kids skeptisch: Sie haben Angst, in der allgemeinen Wiedervereinigungs-Euphorie unterzugehen. Schlechte Chancen bei der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt bringen eine zunehmende Orientierungslosigkeit mit sich.

Deutlich wurde bei der Diskussion die Ähnlichkeit der Probleme: Auch die Ostkinder und -jugendlichen haben Angst, die »schlechteren Deutschen« zu sein und an den Rand gedrängt zu werden. Zu »ganz großen Berührungsängsten und auch Vorurteilen« bekannte sich eine Mutter aus dem Ostteil. Dieses Problem soll jetzt aktiv angegangen werden. Türkische Eltern haben die Kinder der Friedrich-Ebert-Grundschule zum gegenseitigen Kennenlernen auf das heutige türkische Kinderfest in SO36 eingeladen. Ins Auge gefaßt wurden auch gegenseitige Besuche und gemeinsame Aktivitäten der Ost- und Westgrundschulen sowie ein Straßenfest in der Adalbertstraße. Denn »nur so bringen wir unsere Kinder dazu, kameradschaftlich miteinander umzugehen und sich nicht gegenseitig die Köpfe einzurennen«, formulierte eine Mutter. Jeanette Goddar

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