ESSAY
: Zeit der Reife

■ Nach dem Ende des Kalten Krieges und des Golfkrieges besteht die Chance, die Rede von der „neuen Weltordnung“ Realität werden zu lassen

In diesen gloriosen Tagen haben die Amerikaner vor allem eines gelernt: zurückhaltend zu sein und ihre Überlegenheit nicht allzu lautstark herauszutrompeten. Dies liegt an unserer Fähigkeit, im politischen Diskurs Rhetorik von Realität zu unterscheiden und uns letzterer zuzuwenden. Dieser Vorzug hat mich bei meinen Reisen durch Europa in den letzten Wochen tief beeindruckt. Viele intellektuell geschulte Personen, Journalisten eingeschlossen, fragten mich nach meiner Meinung über die Ausrufung einer neuen Weltordnung durch Präsident Bush. Ich wußte jedoch, daß dies nur Geschwätz ist. Bush wie vor ihm Reagan reagieren auf innere Probleme, indem sie sich der Redekunst widmen.

Ich wünsche mir sehr, daß sich eine bessere Ordnung der internationalen Beziehungen herausbildet. Doch ich denke, man darf die damit verbundenen schwierigen Schritte nicht vernachlässigen. Zweifellos hat der Zusammenbruch des kommunistischen Wirtschaftssystems und des diesem zugrundeliegenden rigiden politischen Systems die Welt tiefgreifend verändert. Die markantesten Auswirkungen dieser Veränderung in Osteuropa und der UdSSR sind unbestreitbar positiv. Sowohl in der Sowjetunion wie auch in den USA ist die Bereitschaft zur Erhöhung von Militärausgaben stark gesunken. Leider hat der militärische Erfolg am Golf die Moral und die finanziellen Ambitionen unserer unbeugsamsten Krieger gestärkt. Es gibt jedoch eine Chance. Sie leitet sich weder aus der Ökonomie noch aus der Außenpolitik ab, sondern aus der Völkerkunde: wenn im benachbarten Wald die Trommeln schlagen, reagiert der Stamm zuerst mit Gewalt. Aber dies dauert nicht an. Zum Schluß behält doch die Vernunft die Oberhand, und dies ist wohl auch der Grund, warum es die Menschen noch gibt.

Das Ende des Kalten Krieges und der Zusammenbruch des Kommunismus haben für den Anbruch einer besseren Weltordnung noch einen anderen Beitrag geleistet. Es ist das Ende der Hoffnung der einen und der Furcht der anderen, der Kommunismus könnte sich in der Dritten Welt festsetzen. In 45 Jahren sind Milliarden ausgegeben und Hunderttausende von Menschenleben geopfert worden, um den Kommunismus zu fördern oder um das zu schützen, was man unter Mißbrauch der Sprache Demokratie nannte. Marx behauptete, und dies mit Nachdruck: der Sozialismus ist nur möglich, wenn der Kapitalismus den Massen sein wahres unterdrückerisches Gesicht gezeigt hat. In primitiven Bauerngesellschaften machen weder Kapitalismus noch Kommunismus einen Sinn. Als ich Vietnam während den ersten Tagen unseres katastrophalen Einsatzes dort unten besuchte, bemerkte ich, wie schwierig es ist, einen kommunistischen Regenwald von einem kapitalistischen zu unterscheiden. Das gleiche gilt auch für Reisfelder. Nun geht diese lange Geisteskrankheit ihrem Ende zu.

Eine weitere Hoffnung: die Perspektive einer neuen Rolle für die Vereinten Nationen in der neuen Weltordnung. Wenigstens kann man dies hoffen. Aber es muß viel getan werden. Ich unterstütze die UNO seit langem, aber auch dort beschränkt sich die Realität leider auf Rhetorik. Der Golfkrieg, in dem die beiden Supermächte sich — aktiv oder passiv — gegenseitig gestützt haben, stellt in dieser Hinsicht eine wichtige Veränderung dar. Washington zeigte eine beispiellose Rücksichtnahme gegenüber der UNO, indem es deren Zustimmung und Unterstützung suchte. Diese wurde dann zur prinzipiellen Rechtfertigung der amerikanischen Militärintervention und des Krieges.

Aber in einer neuen Weltordnung kann die UNO nicht wie im Golfkrieg das Rechtfertigungsinstrument der US-Politik sein. Sie braucht eine höhere Autorität. Anders gesagt: die Staaten müssen zugunsten der UNO einen Teil ihrer Souveränität aufgeben — nicht zuletzt die Vereinigten Staaten.

Ein anderer, schwieriger Punkt: die UNO braucht die Autorität, den Lauf der Dinge umzukehren und nicht nur Aggressionen eines Landes gegen ein anderes zu beenden, sondern auch Massaker und Zerstörungen innerhalb eines Mitgliedslandes. Eine handlungsfähige UNO hätte in den letzten Jahren die mörderische Barbarei in Uganda beenden können, in Beirut, in Liberia.

Die Verhinderung von Souveränitätsmißbrauch — dies ist die Lösung, die wir brauchen und die wir noch nicht haben. Aber es braucht noch mehr: eine wirkliche Weltordnung verlangt ein Ende des Waffenhandels. Die Waffen, mit denen sich Iraker und Iraner lange massakrierten, wurden hauptsächlich von außen geliefert; das gleiche gilt für die Waffen, gegen die die Kräfte der USA und der UNO in Kuwait und Irak ankämpfen mußten. Keine vernünftige Weltordnung kann eine solche von Handelsinteressen ermunterte Euthanasie hinnehmen.

Eine neue Weltordnung, wenn sie irgendeinen Sinn oder Zweck haben soll, muß über Konflikte und Massaker hinaus tätig werden und sich mit deren Ursprüngen beschäftigen. Der gewaltsame Tod ist das Schicksal besonders der Armen. In 45 Jahren Kalten Krieges starb kein einziger Mensch als Ergebnis einer direkten Konfrontation zwischen den beiden Supermächten, einige Unfälle ausgeschlossen. Jede neue Weltordnung muß die Armut als Hauptgrund der Weltunordnung berücksichtigen. Dies bedeutet einen kontinuierlichen Ressourcentransfer von den reichen in die armen Länder. Nach meiner langen Erfahrung würde ich diesen Transfer gerne auf die Lebensmittelproduktion konzentriert sehen.

Vor hundert Jahren sah man die Volksbildung als Schlüssel zu wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt. Das haben wir offenbar vergessen. Ein Großplan für die Bildung in den armen Ländern würde eine große Herausforderung darstellen. Kein Zweifel: Bildung ist eine Pflicht. Bush wollte einmal „Bildungspräsident“ genannt werden. Leider blieb dies im Bereich der Rhetorik.

Die letzte Frage, und die dringendste: Die Welt selbst muß überleben. Nuklearwaffen stehen heute zu Tausenden in den USA, in der Sowjetunion, über und unter den Ozeanen. Der Kalte Krieg ist auch hier zu Ende. Nun ist die größte Gefahr, daß diese Waffen in unverantwortliche Hände fallen. Sie müssen zerstört werden. Es ist unumgänglich, eine US-sowjetische Kommission zu bilden (unter UNO-Aufsicht), deren Aufgabe es wäre, die Todeswaffen zu sammeln und zu zerstören.

Ich schließe mit einer Huldigung an Präsident Bush. Wenn er von einer neuen Weltordnung spricht, kann ich mir nicht denken, daß er nicht analysiert hat, was dieser Begriff für ihn persönlich und seine Administration bedeutet. Aber vielleicht haben seine Worte eine instinktive Berechtigung: die Idee, daß die Zeit gekommen ist, um an eine sicherere und bessere Welt zu denken. Vielleicht verdanken wir ihm mehr, als wir denken. Diese Anregung mache ich in aller Gutwilligkeit und aller Freundschaft. John Kenneth Galbraith

Der Autor ist Wirtschaftsprofessor an der Harvard-Universität und Autor von Büchern wie „The Affluent Society“ und „The New Industrial State“. Übersetzung: D.J.