Türkei: Neues Gesetz öffnet Folter Tür und Tor

Als „separatistische Propaganda“ bleiben kurdische Demonstrationen weiterhin strafbar/ Die Gummiparagraphen des neuen „Antiterrorgesetzes“ geben der staatlichen Willkür freie Hand/ Strafverfahren gegen Folterer praktisch kaum möglich  ■ Von Hans Werner Odendahl

Die am vergangenen Freitag vom türkischen Parlament überraschend beschlossenen Änderungen der Strafgesetzgebung erregten weltweit Aufsehen, doch handelt es sich bei ihnen keineswegs um eine zweifelsfreie Liberalisierung. Zwar wurden die sowohl international als auch in der Türkei jahrelang heftig diskutierten und kritisierten Strafrechtsparagraphen 140, 141, 142 und 163 aufgehoben. Doch in dem gleichzeitig vom Parlament in Ankara verabschiedeten Gesetz Nr. 3713 „zur Bekämpfung des Terrors“ bleiben nicht nur die alten Straftatbestände teilweise erhalten. Auch der weiteren Anwendung der Folter wird Vorschub geleistet. So können in der Türkei Verdächtige auch weiterhin ohne richterlichen Haftbefehl bis zu 15 Tage in Polizeihaft gehalten werden. Anwälten wird dabei kein Zugang gewährt und auch danach nur unter polizeilicher Kontrolle. Jeder Schutz gegen die in der Polizeihaft allgemein verbreitete und systematisch angewandte Folter ist damit wie bislang ausgeschlossen. Werden Strafverfahren gegen Folterer eröffnet, dürfen sie unabhängig von der Schwere der Tat nicht in Untersuchungshaft genommen werden. Nur im Falle der „Tötung oder beabsichtigten Tötung“ eines Menschen müssen sich die Folterer vor öffentlichen Gerichten verantworten, in allen anderen Fällen wird der Täter nur mit Zustimmung des Innenministers verfolgt.

Zudem wird es kaum mehr möglich sein, Folterer zu identifizieren, da Vernehmungsbeamte laut „Antiterrorgesetz“ nur „in geheimer Sitzung“ vor Gericht vernommen werden dürfen. Ihre öffentliche Enttarnung beispielsweise in den Medien ist unter Strafe gestellt.

Mit der Abschaffung der Strafrechtsparagraphen 140, 141, 142 und 163, die bislang auch den gewaltfreien Ausdruck politischer und religiöser Überzeugungen unter Strafe stellten, traten neue, ähnlich unbestimmte und schwammige Bestimmungen in Kraft. So kann eine Organisation oder Vereinigung von den Staatsanwaltschaften und Gerichten künftig bereits dann als „terroristisch“ eingestuft werden, wenn die Behörden meinen, es werde mit „Gewalt“, „Druck“, „Einschüchterungen“, „Drohung“ oder „Zwang“ gearbeitet, um die „Existenz des türkischen Staates zu gefährden“, die „Staatsautorität zu schwächen oder zu beseitigen oder an sich zu reißen oder um die öffentliche Ordnung oder allgemeine Gesundheit zu stören“.

Völlig offen bleibt, was etwa als „Druck“ oder „Einschüchterung“ verstanden wird, und welche Art politische Betätigung beispielsweise die „Staatsautorität“ schwächt. Mit dem neuen „Antiterrorgesetz“ wird der willkürlichen Verfolgung von Parteien, Gewerkschaften und Vereinen Tür und Tor geöffnet. Sitzstreiks oder die Vorbereitung von Streiks könnten künftig als terroristische Aktivitäten verfolgt werden, da mt ihnen „Druck“ ausgeübt und die öffentliche Ordnung gestört wird. Beispiele aus der Vergangenheit belegen die Findigkeit türkischer Staatsschützer. So wurde dem Gewerkschaftsdachverband DISK seinerzeit vorgeworfen, mit der Vorbereitung eines Generalstreiks Druck auf das Parlament ausgeübt zu haben. Die Staatsanwaltschaft bezeichnete dies als „ideelle Gewalt“ und forderte für die Gewerkschaftsführer die Todesstrafe.

Auch der alte Straftatbestand der „separatistischen Propaganda“ bleibt erhalten. Die auf die kurdischen Autonomiebemühungen gemünzte Bestimmung stellt bereits Demonstrationen und Versammlungen unter Strafe. „Schriftliche oder mündliche Propaganda, die auf die Zerstörung der Einheit des türkischen Staates abzielt“, wird nach dem „Antiterrorgesetz“ mit hohen Geldstrafen und Haftstrafen zwischen zwei und fünf Jahren belegt.