»Die ganze Jugend«

■ Niemen, das singende RGW—Idol, in Berlin

Niemen kommt nach Berlin. Und die polnische Gemeinde in Berlin kommt zu Niemen. Dieser Mann ist Mythos, Legende, Idol. Wer zu ihm geht, bringt seine Erinnerungen mit. An die Nächte am Lagerfeuer, in denen sie seine Lieder sangen. An die langen Jahre der gesellschaftlichen Krise, in denen seine Musik Trost spendete. Und natürlich an die Zeit der Liebe, deren glückloses Ende dieser Mann zu überwinden half.

Seit über 20 Jahren lieferte er immer wieder den Soundtrack zu dem, was im Lande vorging. Für viele junge Polen verkörperte er in den Siebzigern das künstlerische Gewissen der Nation. Seine Synthese aus wehmütig-romantischen Melodien und den orchestralen Möglichkeiten elektronischen Instrumentariums entsprach ziemlich exakt dem, was in der Gesellschaft vorherrschte: der Schwebezustand. Nach Verhängung des Ausnahmezustands in Polen zog sich Niemen von den Bühnen zurück, baute sein eigenes Studio auf, schrieb Theater- und Filmmusiken. Aber auch immer wieder am Chanson orientierte Lieder, denen er mit seiner in einem weißrussischen Kirchenchor geschulten Stimme ein unverwechselbares Flair gab.

Den ersten Teil des Abends im Polnischen Institut für Kultur am Alexanderplatz bestritt der in seinen typischen Insignien Hut, Sonnenbrille und Arbeitskombi erscheinende Niemen mit Material von seinem neuen Album Terra deflorata. Den vorproduzierten Bändern gab er seine Stimme hinzu und die Klänge zweier Synthesizer. Unter anderen Bedingungen wäre das als die etwas lächerliche Attitüde eines Alleinunterhalters angekommen — hier aber ist Niemen ein Star; einer, dem alles erlaubt wird. Die neuen Lieder werden wieder ein Erfolg sein. So, wie es die alten jetzt schon sind. Nach der Pause kramte das Multitalent in seinem Repertoire, genau wissend, was die Gemeinde von ihm erwartete. Beifall und Jauchzer nach den ersten Takten, Beifall und Fußtrampeln nach dem Schlußakkord. Dazwischen: feuerzeugschwingend mitsingen. Der Kommentar einer Nachbarin: »Meine ganze Jugend!« Die auffallend vielen Frauen im Publikum gaben die Stimmung vor. Vor allem die Balladen, in denen sich der Verehrte durch alle Register seiner Gänsehautstimme bewegte, lösten wahre Begeisterungsstürme aus. Als der Künstler nach mehreren Zugaben erschöpft abtrat, konnten seine JüngerInnen mit ihm zufrieden sein. Für sie sind Vorwürfe der Art, daß sich Niemen mehr und mehr der Popmusik ergeben habe, völlig gegenstandslos. Kult kennt nun mal keine Kritik. Baumgartner