DEBATTE
: Chancen

■ Die Grünen und das Abenteuer des wilden Ostens

Die Grünen wie die sogenannten „Bürgerbewegungen“ in der ehemaligen DDR haben den deutsch-deutschen Einigungsprozeß zu Recht, aber mit den falschen Argumenten kritisiert. Recht hatten sie in der Kritik an der Tempokratie und darin, daß ein derartig überstürzter Zusammenschluß zweier einander so fremder Gesellschaften Probleme nicht löst, sondern schafft und auf Dauer stellt.

Kläglich aber war ihre Argumentation, weil sie sich weder von der Freude über den Zusammenbruch einer Diktatur anstecken ließen noch entschieden genug darauf hingewiesen haben, daß dieser Vereinigungsprozeß vor allem die demokratische Substanz gefährden würde (letztes Beispiel: „Die soziale und ökologische Bewältigung der deutschen Einheit“ — so lautet ein Tagesordnungspunkt der Bundesversammlung der Grünen am kommenden Wochenende; die demokratische Bewältigung scheint nicht der Rede wert zu sein.)

Die Grünen — so etwa Joschka Fischer noch im November 1989 — haben nicht erkannt, daß die deutsche Frage wirklich ein Problem war, haben daher zu der Frage nach der Kontur deutscher Staatlichkeit fast nichts zu sagen gehabt, und viele von ihnen sind der gänzlich irrealen Hoffnung hinterhergelaufen, in der DDR könnte sich etwas ereignen, das die zu Unrecht ungeliebte bundesrepublikanische Demokratie bei weitem übertreffen werde. Ganz richtig haben die Grünen von Anschluß gesprochen — zugleich aber hartnäckig übersehen, daß eben den eine große Mehrheit in der DDR auf Biegen und Brechen auch wollte.

Wenn Teile der Grünen heute dazu neigen, sich zum Anwalt der angeblich übers Ohr gehauenen und um ihren demokratischen Impuls betrogenen Bevölkerung der fünf neuen Länder aufzuschwingen, dann fallen (nach Teilen der SPD und der Gewerkschaften) auch sie noch in die alte Umverteilungsrhetorik zurück und werden dann auf Dauer Schwierigkeiten haben, dem Publikum die Differenz zwischen Grünen und PDS deutlich zu machen. Wer heute das klassische etatistische Arsenal an sozialpolitischen Forderungen auffahren läßt, muß wissen, daß er nicht nach dem ökologischen Umbau, sondern nach der Wachstumsgesellschaft ruft.

Daß das Ende eines Regimes, das der Bevölkerung jahrzehntelang die Angebote des Konsumismus vorenthalten hat, zu einem Run auf eben diesen Konsumismus führen würde, ist nicht weiter erstaunlich. Daß der politische Zusammenbruch eines Landes, dessen Bevölkerung mehr als fünfzig Jahre diktatorische Kontinuität hinter sich hat, nicht eben besonders intensive demokratische Schübe freisetzen würde, ist ebenfalls nicht überraschend. Erstaunlich ist dagegen, daß die Grünen — noch immer an der Fiktion eines dritten Weges festhaltend — doch alles nicht haben sehen wollen. Und erstaunlich ist schließlich auch, daß sie so wenig über die Chancen gesprochen haben, die das deutsch-deutsche Abenteuer allen Gefahren zum Trotz bereithält. Um es auf eine Formel zu bringen: Die Grünen — nicht nur in dieser Hinsicht eine sehr konservative Partei — haben es versäumt, ihre besten Ideen zu aktivieren und auf die neue Situation anzuwenden.

Daß die Inhalte der Grünen politisch nie so recht zum Zuge gekommen sind, hat ja nicht so sehr mit dem bösen Willen der anderen, als vielmehr vor allem mit den zähen Strukturen einer komplizierten und korporativ verklebten Gesellschaft zu tun, in der Politik auch ohne Kohl zuvorderst im Aussitzen besteht. Welche Chancen jedoch eröffnen, daran gemessen, die fünf neuen Länder! Fast alles muß in ihnen erneuert werden, der ordnungspolitische Spielraum ist riesengroß und allmählich beginnen selbst die lautesten Jubler zuzugeben, daß sie Antworten nicht wissen und ratlos sind.

Die religiöse Hoffnung auf das Wunder Marktwirtschaft hat getrogen, und die neuerlichen Versuche, Marktwirtschaft auf staatlichem Wege zu etablieren, werden ebenfalls vergeblich sein. Mit anderen Worten: Das bisherige wirtschafts- und sozialpolitische Instrumentarium christlich- wie sozialdemokratischer Provenienz wird in den fünf neuen Ländern versagen. Eine gute Gelegenheit, sollte man denken, ein paar neue Ideen, die bisher bei den Grünen wenigstens am Katzentisch Platz hatten, in Umlauf zu bringen.

Einige Beispiele. Was sich schon in der alten Bundesrepublik herumzusprechen begann, ist jetzt offensichtlich geworden: Die klassische Vollbeschäftigung ist ein gänzlich irreales Ziel, zudem ein wenig wünschenswertes. Denn sie würde eine Wachstumspolitik voraussetzen, vor deren natur- wie sozialökologischen Folgen die Grünen immer wieder zu Recht gewarnt haben. Da nun in der ehemaligen DDR ohnehin über kurz oder lang ein (wie immer genanntes) lohnarbeitsunabhängiges Mindesteinkommen eingeführt wird, wäre es an der Zeit, offensiv darüber zu debattieren: das Mindesteinkommen nicht als Überbrückungshilfe für den meist fiktiven Tag X, sondern als Grundausstattung in einer Gesellschaft, die vom Diktat der Lohnarbet wegwill und ihm im übrigen auch vergeblich hinterherrennen würde.

Oder: die Sozialpolitik. In ihrer etatistischen Ausrichtung war sie schon in der alten Bundesrepublik zu teuer geworden, und in den fünf neuen Ländern — in denen die Versorgungsmentalität ja noch viel tiefer verwurzelt ist — wäre sie im bisherigen Rahmen auf Dauer vollends unbezahlbar. Auch das wäre ein guter Anlaß, ältere grüne Ideen erneut ins Spiel zu bringen, die auf eine Sozialpolitik zielten, welche sich vom Primat der Monetarisierung von Hilfe abwendet und auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht von staatlicher und Selbsthilfe ist.

Oder schließlich: der Aufbau der Verwaltung in den fünf neuen Ländern. Gerade weil hier fast bei Null angefangen werden muß, liegt es nahe, daß die unverzichtbaren westlichen Berater das kopieren werden, was sie schon kennen: eine viel zu zentralistische Verwaltungsstruktur. Auch das wäre ein guter Anlaß, die grüne Idee der Rekommunalisierung zu propagieren, die ja nicht einfach nur Dezentralisierung meint, sondern auch an das alte Ideal der amerikanischen Revolution anknüpft, an die Einsicht nämlich, daß die Demokratie — soll sie tragfähig werden — dem Bürger lokale politische Handlungsmöglichkeiten eröffnen muß.

Kurz, die fünf neuen Länder befinden sich im Prinzip in einer offenen Situation. Ihr politisches Vakuum könnte gut mit einigen grünen Vorschlägen gefüllt wrden. Zwar scheint die Bevölkerung vorerst alles andere wollen; doch sollte man umgekehrt die Attraktivität der Idee nicht zu gering veranschlagen, daß in der ehemaligen DDR vielleicht der eine oder andere der industriellen, sozialpolitischen und ökologischen Fehler vermieden werden könnte, deren Korrektur sich in der alten Bundesrepublik als so schwer und teuer erwiesen hat.

Dazu ist freilich eins nötig: Die Grünen müssen den Mut haben, dem demokratiegefährdenden Druck, der von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung der ehemaligen DDR ausgeht, entgegenzutreten. Wer — wie die PDS — meint, es genüge, die sozialpolitischen Interessen dieser Bevölkerung gegen die Regierung Kohl auszuspielen, handelt reaktionär. Da diese Haltung gerade auch im Umfeld des Bündnis 90 verbreitet ist, gilt es vorerst auch, den politischen Streit zwischen Opposition- West und Opposition-Ost zu organisieren. Die Fraternisierung der vermeintlich besseren Menschen aus Ost und West wäre die schäbigste aller denkbaren Lösungen. Die Oppositionellen der ehemaligen DDR sind, weil sie zum Sturz eines überfälligen Regimes beigetragen haben, noch lange nicht die besseren Demokraten. Thomas Schmid

Thomas Schmid ist Buchautor und zählt zu den Ökolibertären der Grünen. Er lebt in Lorsch bei Frankfurt.