Bundeswehr observiert Sowjetarmee

■ Beim Fotografieren eines sowjetischen Militärlagers wurde ein Bundeswehrsoldat angeschossen

Berlin (taz) — Nach dem Zwischenfall am sowjetischen Militärlager in Altengrabow bei Magdeburg herrscht im Bonner Verteidigungsministerium Erklärungsnotstand. Bei dem Versuch, die Einrichtung der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte zu fotografieren, waren am Freitag mittag drei Bundeswehrsoldaten von einem Militärposten beschossen und einer dabei verletzt worden. Während ein Sprecher des Bonner Ministeriums gestern betonte, es gebe „keinerlei Erkenntnisse, daß sich unsere Soldaten rechts- oder vorschriftswidrig verhalten“ hätten, behauptete das Pressezentrum der Sowjetarmee in Wünsdorf bei Berlin das Gegenteil. Zwei der drei Bundeswehrangehörigen sollen auf das als militärischen Sperrbereich gekennzeichnete Gebiet vorgedrungen sein und das Lager durch einen Drahtverhau hindurch fotografiert haben. Der Posten habe die Eindringlinge zuerst zum Stehenbleiben aufgefordert und den Einsatz der Schußwaffe angedroht. Trotz eines Warnschusses hätte einer der Soldaten weiterfotografiert. Um dieses zu unterbinden, habe der Posten „im Einklang mit den Erfordernissen der Militärvorschriften“ geschossen. Der Offizier wurde am Arm verletzt.

Der Sprecher des Bundeswehrkommandos Ost, Oberst Splittgerber, beschrieb den Vorfall gänzlich anders. Danach hielten sich die Bundeswehrler „deutlich außerhalb des sowjetischen militärischen Bereiches und Sperrgebietes auf einer öffentlichen Straße auf“ — der Schußwaffengebrach sei „unprovoziert und unrechtmäßig“ erfolgt.

Wie 'dpa‘ meldete, wird der Vorfall nicht nur im Verteidigungsministerium als „äußerst brisant“ bewertet. Mit den Schüssen sei ein bislang geheimgehaltenes Vorgehen höchster Bundeswehrstellen gegen die Sowjettruppen in der ehemaligen DDR ans Tageslicht getreten. So gebe es seit der Vereinigung beider deutscher Staaten einen Geheimbefehl, die Einheiten der sowjetischen Streitkräfte zu observieren. Am Freitag abend räumte ein Hardthöhen-Sprecher ein, das Lager in Altengrabow sei vor einiger Zeit in die Beobachtung von Aktivitäten der sowjetischen Streitkräfte einbezogen worden. Verteidigungsminister Stoltenberg soll von den Observationen allerdings nichts gewußt haben.

Das Mitglied des Verteidigungsausschusses Jürgen Koppelin (FDP) kritisierte diese Beobachtungen als „unverantwortliche Dummheit mit schwerem politischem Schaden“. Bis zum 3. Oktober hatten die Alliierten die Sowjetarmee beobachtet. Beim Versuch, ein Militärdepot bei Potsdam zu fotografieren, war im März 1985 ein amerikanischer Major erschossen worden. Der Vorfall war anschließend von der Regierung in Washington heruntergespielt und schnell zu den Akten gelegt worden. Wolfgang Gast