Angst vor kurdischem „Gegenstaat“

■ Der türkischen Regierung kommt die Rückführung der kurdischen Flüchtlinge über die Grenze nach Irak angesichts der eigenen ungelösten Kurdenfrage nicht ungelegen

In türkischen Regierungskreisen herrscht Erleichterung über die begonnene Errichtung von Flüchtlingslagern im Nordirak. Der Sprecher des türkischen Außenministeriums Murat Sungar wies darauf hin, daß der türkische Staatspräsident Turgut Özal als erster die Errichtung einer Schutzzone für die Hunderttausende von kurdischen Flüchtlingen auf nordirakischem Territorium gefordert habe.

Die Türken fühlten sich angesichts des Flüchtingsstroms in den vergangenen Wochen von der Weltöffentlichkeit im Stich gelassen. Das Meinungsforschungsinstitut Kamoy publizierte jüngst die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage unter türkischen Bürgern. Auf die Frage, ob die USA und die Alliierten die Türkei genügend unterstützt hätten, antworteten 93,3 Prozent der Befragten mit Nein. Die Frage, ob die Türkei mit der Flüchtlingswelle alleingelassen wurde, bejahten über 88 Prozent. 46 Prozent der Befragten halten die USA und die Nato-Länder für nicht zuverlässige Bündnispartner. Der mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattete Regionalgouverneur der kurdischen Gebiete in der Türkei, Hayri Kozakcioglu, klagte am Wochenende über die westlichen Länder — die gerade 1.260 Tonnen Hilfsgüter geliefert hätten: „Die westlichen Länder übertreiben die Höhe ihrer Hilfslieferungen an die Flüchtlinge. Die Hilfe, die unser Land geleistet hat, macht das Sieben- bis Achtfache aus.“ In Anzeigen des türkischen Gesundheitsministeriums wird die Türkei als vorbildliches Asylland gelobt; die Türkei helfe Hunderttausenden Flüchtlingen, während in Europa die Ausreisewelle von ein paar zehntausend Albanern bereits zur Schließung der Grenzen führe.

Die Rückführung des Großteils der Flüchtlinge auf irakisches Territorium ist ganz im Sinne der türkischen Regierung. Die Türkei befürchtet, daß die Präsenz Hunderttausender irakischer Kurden die ungelöste Kurdenfrage im eigenen Land verschärfen könnte. In den kurdischen Regionen der Türkei herrschen seit Jahren bürgerkriegsähnliche Zustände. Seit 1984 führt die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) einen bewaffneten Kampf gegen die türkische Armee. Die Angst, daß — wenn nicht kurzfristig, so doch langfristig — die Herausbildung eines kurdischen Staates auf der Tagesordnung stehen könnte, bestimmt die türkische Politik. Mit Schrecken verfolgt der angesehene Kommentator der Tageszeitung 'Cumhuriyet‘, Ugur Mumcu, die Diskussion: „Wozu führt eine 'Sicherheitszone‘? Sie ist das Embryo eines Staates. Aus diesem Embryo kann sich in Zukunft ein autonomer oder unabhängiger 'Kurdischer Staat‘ herausbilden.“ Der ehemalige türkische Premier Bülent Ecevit sieht den türkischen Staat durch Errichtung von „provisorischen Besiedlungszentren“ bedroht: „So etwas bedeutet, daß sich teils auf irakischem Territorium, teils auf türkischem Territorium ein 'Gegenstaat‘ unter faktischer Herrschaft der USA herausbildet. Die USA könnten diese Besiedlungen, die faktisch unter ihrer Herrschaft stehen, nicht nur als Druckmittel gegen den Irak, sondern auch gegen den Iran und die Türkei einsetzen.“

Ecevit hat vergessen, daß auch die Türkei in diesem Machtpoker mitspielt; in einer Ansprache erinnerte der türkische Staatspräsident Turgut Özal an das Osmanische Reich, das ein Vielvölkerstaat war: „Unter den Flüchtlingen sind Kurden, Turkmenen und Araber. Vergessen wir nicht, daß ein Großteil dieser Menschen über Jahrhunderte mit uns zusammengelebt hat.“

Die Kurden in der Türkei mißtrauen der „humanitären Begründung“, die die USA für ihr militärisches Vorrücken im Nordirak liefern. In den eingerichteten Lagern — so die Kurden — werden die amerikanischen Militärs politische Eigenorganisation der Kurden unterdrücken. Die Türkei hat von den USA dem Vernehmen nach Garantien verlangt, daß in den zu gründenden Lagern im Nordirak politische Aktivitäten gegen die Türkei nicht geduldet werden. Man werde bewaffnete Personen in den Camps nicht zulassen, beruhigte daraufhin der US-Botschafter in Ankara, Morton Abramowitz, die Gemüter. Ömer Erzeren