Affenlos und trocken

■ Der dritte „Irrtu(r)m“: Zeitschrift von psychisch Kranken zum Thema Sucht

Frau Nellip fährt im Haloperido- getriebenen Super-Tavor Wagen mit Frau Melleril zum Lithium- Fest. Als Willkommenstrunk gibt es einen bitteren Dapotum-Likör. Zum lukullischen Empfang werden scharfe Taxilan-Brötchen gereicht ... die Musik spielt den Inophan-Blues. Das Neurocil-Bad lädt zum exogenen Schizo-Flamingo-Schwimmen ein ... und sie träumen vom pillenfreien paradies, in dem es Baldrian für die Seele gibt.

Georg Hubrich hat diese Pillen-Farce für die Zeitschrift „Irrtu(r)m“ aufgeschrieben, deren dritte Ausgabe jetzt vorliegt. „Irrtu(r)m“, von Psychiatriepatienten in Eigenregie herausgegeben, hat im neuen Heft die „Sucht“ zum Thema gemacht, und zwar im weitesten Sinne: Autobiografische Berichte, Gespräche, Berichte, Gedichte und Illustrationen gibt es von der Pillensucht, über Rauchen, Alkohol, Eßsucht und Heroin.

Die meisten des zwölfköpfigen Redaktionsteams waren bis 1988 Langzeitpatienten in der geschlossenen Psychiatrie Blankenburg. Seit sie aufgelöst wurde, leben sie in Wohngruppen wie denen der „Initiative zur sozialen Rehabilitation und Vorbeugung psychischer Erkrankungen e.V.“, aus der auch der „Irrtu(r)m“ hervorgeht. Mit dem Thema „Sucht“ kennen sie sich aus. Sind doch Alkoholismus oder Rauschgiftsucht oft Einlieferungsgrund, Eß- oder Tablettensucht dagegen leicht Behandlungs(er)folge.

Zum Beispiel Manny Bröder: In einem Gespräch erzählt er seine 20jährige Suchtlaufbahn, Opium, Heroin, Methadon. Seit 7 Monaten ist er „affenlos, ich kann morgens aufstehen, ohne daß ich Schweißausbrüche habe.“ Im Moment nimmt er Haschisch. Perspektive: „Der Anspruch, ganz drogenfrei zu leben, ist zu hoch. Man kann nur Pausen machen, und wenn die bis ans Lebensende dauern.“ Oder Lore von Engel, alkoholkrank. Sie berichtet von ihrem jahrelangen perfekten Flaschen-Versteckspiel. „Ich wollte ums Verrecken nicht alkoholkrank sein.“ Gisela Meyer, Kettenraucherin, hat geringeren Leidensdruck, aber viel Ärger, wenn sie wieder für 30 DM Zigaretten und für 17 DM Lebensmittel eingekauft hat.

Macht es „Betroffenen“ keine Schwierigkeiten, öffentlich über ihre teilweise enormen Probleme zu reden? „Wir haben schon so harte Sachen mitgemacht“, sagt Regina Junge, und Gotthard Raab vom Verein ergänzt: „Die in Blankenburg waren, haben nichts mehr zu verlieren.“ Außerdem lernen die psychisch Kranken in den Wohngruppen das Reden. Und das Schreiben? Wem es nicht liegt, der kann seine Geschichte auch erzählen. Doch für die meisten Irrtü(r)mler gilt, was Horst Werner Grotheer voller Emphase ausdrückt: „Schreiben macht frei!! Es ist zufriedenstellend wie eine Flasche Sekt.“ Er schreibt täglich 5 bis 6 Seiten voll.

Keineswegs sehen die Macher Innen den „Irrtu(r)m“ als Therapieprojekt, obwohl die wöchentlichen Redaktionssitzungen (“wilde Debatte“) sicher einen Heileffekt haben. Es geht ihnen darum, sich gegen das Bild vom „tumben, pillenschluckenden Irren“ zu wehren. Und: um Handwerk. Redigieren, Tippen, Layouten, Fotografieren — zur Druckerei geht die fertige Druckvorlage. Seit kurzem gibt es, nachdem bisher in den Räumen des „Cafe Blau“ gearbeitet wurde, Kellerräume in der Vegesacker Straße. Die Behörde steuerte Lichttische und ein Tonbandgerät bei. Und einen hauptamtlichen Redakteur - bislang ist jeder Handschlag Ehrenamt — wird es auch geben: Georg Hubrich bekommt eine ABM-Stelle.

Die Finanzierung des Projekts (Auflage 1.500) wird allerdings schwieriger, weil der „Irrtu(r)m“ sich selbst tragen soll, die zunächst Interessierten, die psychisch Kranken, aber oft die zwei Mark fürs Heft nicht haben. Für „nicht Verdienende gratis“, heißt es jetzt. Verkaufsstellen sind Dr. Heines, Ost, Sebaldsbrück, die Tagestätten wie das Wichernhaus, die Buchläden Ostertor und Neustadt und der Verein (Vegesacker Straße 174). Fürs nächste Heft werden noch Beiträge gesucht, Thema: „Liebe und Wahnsinn“. Bus