Unvereinbarkeiten der Vereinigung

■ Elfriede Müllers „Goldener Oktober“ uraufgeführt

Nach der Pause klemmte der Vorhang. Das Licht ging statt auf der Bühne im Zuschauerraum an. Offensichtlich lief etwas schief, und doch schien es zu enden, wie es bei der Uraufführung von Elfriede Müllers „Goldenem Oktober“ sein sollte. Ihr Stück aus dem deutsch-deutschen Vereinigungsdschungel kurz nach der Währungsunion hatte sich bis dahin schwerfällig vorwärtsgeschleppt— wer also hätte es nicht verstanden, daß sich nun auch der Vorhang nicht mehr bewegte.

Es wäre das vorzeitige Aus für den Göttinger Müllentsorger gewesen, der im Osten expandieren will und in einer auf Westen getrimmten Bar, die sich im ehemaligen Todesstreifen befindet, marktwirtschaftlich schwadroniert. Onkel heißt er und ist einer der schnellen DM-Ritter, die im „Goldenen Oktober“ des Jahres 1990 die ehemalige DDR heimsuchten. Zwei weitere Spekulanten der ersten Stunde suchen mit flauen Vereinigungswitzen zu glänzen, während Silke, Flocke aus Pankow, einen Striptease hinlegt und vom Detektiv aus dem West-Kaufhaus mit den Augen verschlungen wird. Er sitzt da, leidet darunter, daß die Warenwelt im geeinten Deutschland noch enthemmter ihr entstelltes Gesicht zeigt, und dann ist es soweit. Er sagt, er sei die „Boje in einem Meer von Habsucht“. Lothar Bobbe versuchte seinem Part auch angesichts solcher Sätze den abgründigen Charme eines Peter Lorre zu geben. Vergeblich.

Der Regisseur Dieter Bitterli wollte solche bedeutungsschwangeren Textstellen nicht distanziert inszenieren. Getreulich folgt er der Autorin auch dann noch, wenn aus den Figuren gesamtdeutsche Probleme zu sprechen drohen und jeder ihrer Sätze mit einem Ausrufezeichen versehen wird. Man fürchtet, es könnte noch lange so weitergehen, aber dann klemmt der Vorhang, und alles ändert sich.

Der Entsorgungsunternehmer schwadroniert nicht weiter, sondern leistet sich mit Leo einen verbalen Schlagabtausch. Er hätte den Ossi gerne in der Göttinger Firma, aber Leo kommt aus der Ecke „Neues Forum“ und ist marktwirtschaftlich untauglich. War bis dahin nicht so recht ersichtlich, ob Leo nur ein guter und zu kurz gekommener DDR-Mensch oder ein bewußter Verweigerer ist, kann Michael Benthin jetzt zeigen, daß er mehr kann, als am Rande der Abwesenheit auf der Bühne zu sitzen. Als sei Elfriede Müller etwas in Bedrängnis geraten und müßte die bis dahin nur angeschnittenen Vereinigungsgeschichten eilig weitererzählen, geht jetzt plötzlich alles schnell — eine Schnelligkeit, die dem Stück und der Inszenierung bekommt.

Die Tübinger Bühne hat sich geleert, und vor der halbrunden Wand mit Graffiti-Resten geht das Morden in anderer Form weiter. Silke ist das erste Opfer. Der Detektiv erdrosselt sie. Zuvor hatte Christin König eine junge Frau gespielt, der immer wieder nervöse Bewegungen in den Körper fahren und die nicht so recht weiß, was sie mit diesem merkwürdigen Mann überhaupt soll. Die drei Plastic-Bomber aus der Bar hätten wahrscheinlich dreistimmig und mißbilligend im Stile der Comedian Harmonists aufgesungen, wären sie beim Mord zugegen gewesen. Aber sie greifen nicht ein, und so fordern die Unvereinbarkeiten der Vereinigung das erste Bühnenopfer. Leo und Nena trennen sich nur, Lola läuft weiter in ihrer Opossumjacke durch die Gegend und kotzt sich aus: „Die alten Arschlöcher. Die neuen Wichser. Einsacken. Austeilen, Gnadenlos.“ Der Entsorgungsonkel kommt ungeschoren davon und trägt am Ende seine Margot über die ehemalige Grenze, als wär's eine Türschwelle. Und dann ab in die Heia, sagte er noch, während der Veuve Cliquot nachprickelt.

Jürgen Berger

Elfriede Müller: Goldener Oktober . Regie: Dieter Bitterli, Bühne und Kostüme: Claudia Billourou, mit Christin König, Lothar Bobbe, Günther Jacobi, Kathrin Becker, Kerstin Prante, Michael Benthin u.a. LTT Tübingen.

Weitere Vorstellungen am 25.4., 18., 25. und 31.5.