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QUODLIBET

■ Heute vor 375 Jahren starben Shakespeare und Cervantes. Hanns Zischler zum St.Georgs-Tag

The Convergence of the Twain („Zwieschlächtiger Zusammenstoß“) ist der schlagende Titel eines Gedichts von Thomas Hardy, und fast gleichzeitig mit diesem Gedicht publizierte in Wien der Komponist, Evolutionsbiologe (Lamarckscher Prägung) und Mathematiker Paul Kammerer sein (heute fast vergessenes) WerkDas Gesetz des Zufalls, in dem mit mathematisch- spekulativen Operationen die verborgenen Ereignislinien berechnet werden, die scheinbar schlagartig aus dem Unsichtbaren auftauchen, sich kreuzen und jenes merkwürdige Ereignis (oder die Ereignishäufung) zur Folge haben, welches die Sprache „Zufall“ nennt. Zu den von Kammerer qualifizierten (und nach seinem Dafürhalten: enttarnbaren) Zufällen dürfte auch die seltsame Koinzidenz von William Shakespeares und Miguel de Cervantes Saavedra gleichzeitigem Todestag am 23.April 1616 zählen. Allerdings, so wendet der russisch-amerikanische Experte für Schachprobleme und lepidepthrophile Symmetrieforscher V.N. [Name der Redaktion bekannt] ein: „Man hat angemerkt, daß beide Autoren am Sankt-Georgstag des Jahres 1616 gestorben“ seien, „nachdem sie gemeinsam den Drachen des falschen Scheins erlegt hatten“, wie Aubrey F.G.Bell (1947) es recht launig, aber zutreffend formuliert; weit davon entfernt, den Drachen zu erlegen, haben Cervantes als auch Shakespeare, jeder auf seine Weise, dieses reizende Untier vielmehr vorgeführt, es an die Leine genommen, um sein schillerndes Schuppenkleid und seinen melancholischen Blick zur Freude der Literatur auf ewig festzuhalten. (Übrigens, wenn auch der dreiundzwanzigste April beider Todestag ist — und mein Geburtstag [Gratulation, d.S.] —, so sind Cervantes und Shakespeare doch nach unterschiedlichem Kalender gestorben: eine Lücke von zehn Tagen klafft zwischen beiden Daten.) Für Kammerer scheidet nach diesem lächelnd gehauchten „Übrigens“ der Fall als Zufall glatt aus.

Der zufällig im gleichen Jahr wie V.N. geborene und als Meister fiktiver Fiktionen zu Ruhm gelangte (Georgie) Osberg (so lautete sein Anagramm in der Familie V.N.s) geht noch einen Schritt weiter, wenn er als den „wahren Autor“ des Don Quijote nicht Cervantes, sondern den protestantischen Franzosen Pierre Ménard schlüssig identifiziert: „Er wollte nicht einen anderen Quijote verfassen, was leicht ist — sondern den Quijote. Unnütz hinzuzufügen, daß er keine mechanische Übertragung des Originals ins Auge faßte; einer bloßen Kopie galt nicht sein Vorsatz. Sein bewundernswerter Ehrgeiz war vielmehr darauf gerichtet, ein paar Seiten hervorzubringen, die — Wort für Wort und Zeile für Zeile — mit denen von Miguel de Cervantes übereinstimmen sollten.“

Stellenweise ist Pierre Ménard dieses abenteuerliche Unterfangen geglückt. Osberg zitiert aus dem verschollenen Manuskript Ménards bezeichnenderweise jene Stelle aus dem neunten Kapitel des ersten Buches, in dem der vorgebliche Cervantes die Abenteuer des Don Quijote einem arabischen Geschichtsschreiber namens Sidi Hamét Benengeli zuschreibt; dieser und kein anderer sei der wahre Autor des Don Q. „In dieser unserer Geschichte, so Hamét/Cervantes, das weiß ich, wird man alles finden, was man nur immer in der ergötzlichsten wünschen kann, und wenn irgend etwas Gutes darin fehlen sollte, so bin ich überzeugt, es liegt die Schuld mehr an dem Hund von Verfasser als am Gegenstand.“

Cervantes (der vorgebliche) hat die Lesesucht unausrottbar in die Welt gesetzt — wie ja sein Don Q. selbst schon damit identifiziert ist—, und neben seinem prominentesten Opfer Pierre Ménard sind noch einige weitere zu nennen, uns zur Mahnung.

Friedrich Justin Bertuch, der bei seinem Dienstherrn, dem Freiherrn Ludwig Heinisch Bachoff von Echt, vormals dänischer Gesandter in Madrid und Kenner der spanischen Literatur, während seines Aufenthaltes von 1569 bis 1773 auf Gut Dobitschen bei Altenburg binnen sechs (!) Wochen allein durch die Lektüre des Don Q. Spanisch gelernt haben will... dieser Bertuch erkrankt wegen unausgesetzter Lesesucht an Fieber und einer Augenentzündung, büßt schließlich fast die Sehkraft seines rechten Auges ein und wird, dergestalt lädiert, zum Übersetzer des Cervantes (des vorgeblichen). Nebenbei bemerkt hat dieser Cervantes ein sehr anschauliches Bild von der Tätigkeit des Übersetzens gezeichnet (natürlich fand er es in dem Manuskript von Sidi Hamét); das Übersetzen von einer Sprache in die andere verhalte sich so, wie wenn man die flamländischen Tapeten auf der unrechten Seite sehe: „denn ob sie gleich die Figuren zeigen, sind sie doch voller Fäden, die sie entstellen, und sie zeigen sich nicht in der Schönheit und Vollkommenheit wie auf der rechten Seite... Deswegen will ich aber nicht sagen, daß das Übersetzen keine löbliche Arbeit sei.“

Der schon zitierte (Georgsritter) Osberg wiederum — der im Alter von sechs Jahren den deutlichen Wunsch äußerte, Schriftsteller zu werden, allerdings tat er dies in englischer Sprache, fürs Schreiben bemühte er das ungleich gröbere Spanisch und veredelte es auf ungeahnte Weise —, Osberg, der von seiner Mutter mit Büchern statt mit Candies versorgt wurde und zu dessen ersten Lektüren, neben Shakespeare, eine französische Übersetzung des Don Quijote zählte, büßte nicht wenig seiner Sehkraft bereits durch diese frühen Lektüren ein, bis er schließlich vollständig erblindete und der Mutter seine Werke diktierte.

V.N. ist es zuzuschreiben, daß ich Shakespeare ganz aus den Augen verloren habe. Unter den schönsten Büchern, welche die Autorenschaft William Shakespeares in Frage stellen, seien erwähnt: A.Lefranc, Sous le Masque de „W.Sh.“: William Stanley VIe comte de Derby, 2 vols, Paris 1918, und A.J. Evans, Sh's Magic Circle, London 1956.

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