Gequirlter Quark

Medeks Oper „Katharina Blum“ in Bielefeld uraufgeführt  ■ Von Frieder Reininghaus

Im Stoff steckt alles, was zu spannendem, aktuellem und anrührendem Musiktheater nötig erscheint: individuelle Tragödie und gesellschaftlicher Sprengstoff, Parteilichkeit für die zu Unrecht Verfolgten und Anklage gegen die wahren Gewalttäter. Heinrich Bölls Büchlein Die verlorene Ehre der Katharina Blum/ oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann (1974) erhebt Klage gegen die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland, in der das Leben einer jungen Frau vor den Augen der ganzen Öffentlichkeit in wenigen Tagen durch Maßnahmen der Strafverfolgungsorgane und der führenden Kräfte der öffentlichen Meinung zerstört werden kann.

Daß die Erzählung so unpathetisch, so knapp geriet, gehört zu ihren Qualitäten. Böll verlieh der düsteren Geschichte Züge einer kölnischen Groteske, erzählte sie in der Sprache eines Mannes, der Amtsdeutsch zu sprechen und Kölsch zu trinken gewohnt ist: eine bittere Humoreske, die auch die Erfahrungen der Springer-Presse-Kampagne gegen Böll reflektierte. Zehn Jahre nach dem Erscheinen der Böll-Erzählung — die Republik hatte inzwischen eine kräftige Terrorwelle erlebt und auf die bekannte martialische Weise reagiert — begann der 1977 aus der DDR ins Rheinland gekommene Komponist Tilo Medek mit der Niederschrift eines Klavierauszugs zur Oper Katharina Blum. Frau Medek arrangierte das Libretto mit Heinrich Bölls Einverständnis.

Schon in der Anfangsphase der Arbeit an seiner ersten großen Oper ließ der Komponist mehrfach und vernehmlich im Radio und in Zeitungen das bemerkenswerte Projekt abfeiern, würzte die Interviews mit seinen Kunstanschauungen und Absichtserklärungen. Da zunächst vor allem das Libretto greifbar war, löste es eine gewisse Resonanz aus — auch in dieser Zeitung. Da wurde der Librettistin vorgehalten, daß sie aus Bölls Ludwig, dessen mutmaßliche und angebliche Straftaten von der Erzählung nicht bewertet werden, schlicht einen „Verbrecher“, einen „unpolitischen Kleinkriminellen“ gemacht habe. Im übrigen wurde gegen Medeks Textbuch eingewandt, daß es das Gespinst der Vor- und Rückblenden, aus denen sich Bölls Text konstituiert, in eine plane und entsprechend platte Story verwandelt habe.

Leider bestätigt jetzt die Uraufführung die vor sieben Jahren formulierten Befürchtungen in vollem Umfang. So wird verständlich, warum die Opernhäuser in Gelsenkirchen und Wuppertal vor einer Realisierung der — nach Medeks Behauptung bereits 1986 fertiggestellten — Oper Abstand nahmen.

Das Musiktheater, und keineswegs erst das moderne, läßt die enormsten Sprünge durch Zeiten und Räume zu. Dennoch wurden die Zeitsprünge der Böllschen Textvorlage preisgegeben, ohne daß die gewonnene „Einheit von Zeit und Handlung“ erkennbare Vorteile hätte — es sei denn, man hielte das Publikum in seiner Wahrnehmungsfähigkeit für extrem beschränkt.

Es offenbart sich, daß die Medeks Neulinge im Operngeschäft sind. Alle avantgardistische Option des Musiktheaters wurde ausgeschlagen— all das, was ihm an Möglichkeiten seit Alban Berg und Franz Schreker zuwuchs, durch Bernd Alois Zimmermann, Luciano Berio, Mauricio Kagel. In aller Bescheidenheit beruft sich Medek auf die „Opernlinie Mozart, Verdi, Puccini, Strawinsky, Weill“. Und nicht etwa er und seine Gattin haben den Stoff gewählt, sondern „der Musizierwille wählt den Stoff“. Eine höhere Instanz also, die ihn, den Meister, einzig noch begnadet, wo alle anderen keinen so rechten „Musizierwillen“ mehr zeigen.

John Dew zeigte in Bielefeld, daß er selbst aus einem Stück wie diesem noch Theater machen will. Da sich Gottfried Pilz, der Bühnenbildner der sieben erfolgreichen Jahre, dieser Medek-Oper verweigerte, präsentierte sich Dew in Bielefeld auch als Ausstatter — freilich ganz auf der von Pilz eingeschlagenen Linie: Sechs Lichtpfeile strukturieren eine gepflasterte Fläche, die nach hinten zu in einer Parabelkurve bis zur Senkrechten ansteigt und den Bühnenraum hermetisch verschließt. Im Schatten und mit dem Rücken zum Publikum sitzt der Leser, der idealtypische Leser der ZEITUNG, die hier stellvertretend für die gesamte Boulevard-Presse angeklagt wird. Freilich im Kostüm einer ewiggestrigen Musik, deren Schöpfer stolz darauf ist, neben der Epoche zu stehen, und von Traditionslinien schwadroniert, die zu reklamieren ihm das Gewerbeaufsichtsamt untersagen sollte.

Tilo Medek entwickelte keine Klangvision zur Liebesgeschichte zwischen Katharina und ihrem dahergelaufenen Ludwig, die uns auf naivische Weise anrühren soll; erst recht kam ihm kein ungeheurer Klang für die brutale Sphäre der Polizeiverhöre und die menschenrechtsverletzenden Machenschaften der ZEITUNG in den Sinn. Dieser Klavierauszug ist am „Text entlang komponiert“, wie es mediokre Tonsetzer im 18. oder 19. Jahrhundert zu tun pflegten — und dann nach Kantorenart instrumentiert. Auch das eher bieder als elaboriert. Medek zeigt eine deutliche Vorliebe für die Flöten— und deren Stimmen führt er wie in der Weihnachtshausmusik vergangener Zeiten: „Fröhlich soll mein Herze springen.“ Derweil wäre eine ganz unfrohe Musik angesagt gewesen für dieses Thema von der verhunzten Ehre einer „Frau aus dem Volk“. Jedenfalls erlag der Komponist der Versuchung, „volkstümlich“ sein zu wollen mit seinen Anleihen bei Kurt Weill und Paul Dessau, obwohl das Volk nach dem Wort Brechts keineswegs „tümlich“ ist. „Die Tonalität“, schrieb Tilo Medek 1978 emphatisch, „kann keine Perspektive sein.“ Jetzt präsentiert er das von ihm selbst als „perspektivlos“ Erkannte mit etwas Pfefferminzschärfe: Tonalität, aufgerauht mit jener Art betulicher Dissonanzen, die schon in den dreißiger Jahren unerträglich war, damals den Kompromiß zwischen „gemäßigter Moderne“ und „gesundem Volksempfinden“ suchte.

Wäre da nicht die wunderbare Susan MacLean gewesen, die die dahingehackte und dahermontierte Medek-Musik mit großer Stimme aus der kleinkarierten Ecke gelockt hätte, es wäre ein noch schlimmerer Abend geworden. Der soziale Realismus der Frau Medek auf der Bühne und das volkstümelnde Gerammle des Orchesters stellen, auf kleinem Umweg, vielleicht so etwas wie ein Stück Erbe der DDR-Kultur in der gesamtbundesdeutschen dar. Vor vier Jahren prahlte Medek ja noch: „Ich komponiere sozialistischer als die DDR-Kollegen.“ Nach dieser Uraufführung will man ihm das gerne glauben. Nur: Das „sozialistische Komponieren“ ist vielleicht ebenso anachronistisch wie aller anderer „realer Sozialismus“.

Tilo Medek: Katharina Blum . Libretto: Dorothea Medek, nach Heinrich Böll, Regie und Bühne: John Dew, musikalische Leitung: Rainer Koch, mit Susan MacLean

Weitere Aufführungen:

25.4.Wuppertal, 29.4.Leverkusen, 4., 15., 23.5.Bielefeld