Pawlow beschwört die Katastrophe

Sitzung des Obersten Sowjets zum Krisenprogramm hatte rein formalen Charakter/ Drohungen gegenüber Streikenden und Aufrufe zur Arbeit/ Allsowjetisches Treffen der Demokraten in Moskau  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Debatte über Pawlows Programm — wer Fragen stellen will, wird gebeten, den Saal zu verlassen“. Mit dieser Überschrift kommentierte die Moskauer Zeitung 'Kommersant‘ im voraus die gestrige Lesung des wirtschaftlichen Krisenprogrammes von Ministerpräsident Pawlow im Obersten Sowjet der UdSSR. Tatsächlich beschränkte sich Pawlow darauf, die Katastrophe auszumalen, in der die Sowjetunion versinke, wenn sein Programm nicht angenommen werde. Er appellierte an die Streikenden, sofort die Arbeit wieder aufzunehmen. „Je weniger Zeit wir verlieren, desto schneller werden wir die wirtschaftlichen Forderungen erfüllen können.“ Die Lesung von Pawlows Programm trug im wesentlichen formalen Charakter. Es war am 19. April bereits auf einer gemeinsamen Sitzung aller „ökonomischen“ Komitees des Obersten Sowjets „zur Kenntnis genommen“ und mit der Bitte an die Regierung verbunden worden, „im Herbst dieses Jahres über seine Realisierung zu berichten“. Pawlos Plan sieht eine Reihe von harten Maßnahmen vor, darunter ein Streikverbot und die Verhängung einer Art von „zweigspezifischem Ausnahmezustand“: bei der Energieversorgung, im Transportwesen und bei der Post, dazu die Verordnung von Mindestarbeitszeiten u.a. Das Programm setzt ein langsames Tempo der Privatisierung und des Überganges zur Marktwirtschaft voraus. Wie Pawlows Stellvertreter, Wladimir Schtscherbakow erklärte, werde die Regierung mit Steuern und Weltmarktpreisen den gemeinsamen ökonomischen Raum gegen jene Republiken — bisher sechs — verteidigen, die sich weigern, den neuen Unionsvertrag zu unterschreiben. Dieses „Versprechen“ erscheint schon deshalb wenig haltbar, weil die übrigen neun Republiken, allen voran Rußland, bemüht sind, ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu den Außenseitern auf die Basis bilateraler Verträge zu stellen und diese auch einzuhalten. Pawlows Plan richtet sich folglich gegen die in allen fünfzehn Republiken vorherrschenden Vorstellungen einer ökonomischen Entwicklung auf der Basis horizontaler, auf gleichberechtigter Grundlage untereinander und mit der Zentrale abgeschlossener Verträge.

Auf eine nichtöffentliche Konferenz zur Diskussion über die Vorschläge hatte die Regierung am 18. April auch führende sowjetische Reformökonomen eingeladen, darunter Leonid Abalkin, Nikolaj Petrakow, Nikolaj Schmeljow und Grigorij Jawlinskij. Sie alle haben sich von der Zentralregierung abgewandt und arbeiten jetzt für die Regierung Rußlands, ebenso wie viele der aktivsten Parlamentarier im Obersten UdSSR- Sowjet den Schwerpunkt ihrer Tätigkei auf das russische Parlament verlagert haben. Weil von dieser Sitzung kaum Nachrichten in die Öffentlichkeit drangen, interpretiert 'Kommersant‘ die Einladung an die Prominenten als Versuch, „dem untersuchten Projekt ein gewisses Gewicht zu verleihen“. „Allerdings“, schloß die Zeitung, „die Mehrheit von ihnen hat sich schon vorher mehr als einmal kritisch geäußert, nicht nur über die einzelnen Schritte des heutigen Unionskabinettes, sondern auch über seine Fähigkeit, den Übergang zur Marktwirtschaft im Lande überhaupt zu vollziehen.“

Unbeeindruckt von den Bemühungen der Unionsregierung um Schuldzuweisung an einzelne Staaten, versammelten sich am Montag in Moskau Deputierte aus allen Republikparlamenten, mit Ausnahme Tadschikistans, zu einer „interparlamentarischen Konferenz“, um einen „interparlamentarischen Rat“ zu gründen und über erste Schritte zu einem „runden Tisch“ aller Nationalitäten und sozialen Kräfte der Sowjetunion zu beraten. Vorbereitet wurde die interparlamentarische Konferenz vom „Konsultativrat des Demokratischen Kongresses“, einer Folgeorganisation der Bewegung „Demokratisches Rußland“, der über 40 politische Parteien und Bewegungen aus der gesamten UdSSR angehören. Wladimir Lyssenko, Sprecher des „Demokratischen Kongresses“ hoffte, daß somit die unionsweite Anerkennung der „interparlamentarischen Konferenz“ als „repräsentativ“ gewährleistet sei.