Der Stillstand der Rechtspflege steht noch bevor

Aktenstapel und Personalnot bestimmen den Alltag im Justizministerium von Sachsen-Anhalt/ Gründlicher Richterwahlausschuß  ■ Aus Magdeburg Jürgen Voges

Einst beherbergte der graue Betonklotz am Magdeburger Kroatenweg die Staatsicherheit samt Verhörzellen im Keller. Jetzt ist er zumindest innen neu getüncht — in die Räume ist modernes, wenn auch noch spärliches Mobiliar eingezogen: Der „Rechtsstaat“, das sachsen-anhaltinische Justizministerium, hat sich hier seine Heimstatt gesucht. Schon Monate vor seinem Dienstherrn, dem Justizminister Walter Remmers, hat Hans-Peter Isensee den Weg aus dem niedersächsischen Justizministerium nach Sachsen- Anahlt gefunden. „Der Präsident des Bezirksgerichts vermittelte mir damals eine Schreibkraft, die mit dem Computer umgehen konnte. Allein mit deren Hilfe war ich dann im Aufbaustab der Landesregierung für die Justiz zuständig“, beschreibt Isensee seine Anfänge in Magdeburg.

Heute ist der einstige Ministerialrat Leiter der Personalabteilung. In seinem Zimmer türmen sich auf Tischen und Fensterbänken die unerledigten Vorgänge. Zwischendurch muß er auch mal eine Pressemitteilung schreiben oder den Anschluß zum Westen, das einzige Funktelefon des Ministeriums, beantworten und zum gewünschten Gesprächspartner durchs Haus tragen. „Natürlich herrscht hier überall größte Knappheit“, sagt er, aber von einem „Stillstand der Rechtspflege“ könne dennoch nicht die Rede sein. So seien zur Zeit die Arbeitsgerichte immens belastet. „Dort ist nicht nur die Zahl der Verfahren überaus hoch“, sagt Isensee. Es werde auch schnell geurteilt, „überaus hoch“ ist auch „die Zahl der Erledigungen“.

Auch in Sachsen-Anhalt sprechen an den meisten Kammern zur Zeit noch von der DDR übernommene Juristen Recht. Richter, die nicht schon vor und nach der Vereinigung mehr oder minder freiwillig ihren Dienst quittiert und sich dann meist als Rechtsanwälte niedergelassen haben, können bis zu ihrer Überprüfung durch die „Richterwahlausschüsse“ im Amt bleiben. „Das sich die Situation durch die Arbeit der Ausschüsse noch verschärfen wird, liegt auf der Hand“, sagt der Leiter der Personalabteilung. „Bedienstete im Überfluß“ hat Isensee „nur in den Gefängnissen“. Dort sind „ganze Einrichtungen“ aufgelöst worden, und es wurde auch Personal in die Warteschleife entlassen. Das Justizministerium selbst soll nach dem Haushaltsplan des Landes einmal 110 Mitarbeiter zählen — Schreibkräfte, Pförtner, Kraftfahrer eingeschlossen. Mit letzteren und mit Sachbearbeitern ist Isensee inzwischen „voll ausgestattet“. Nur im höheren Dienst, bei den wirklichen Juristen hapert es völlig. Lediglich eine der Referentenstellen im Hause ist mit einem Juristen besetzt, der vorher im Justizministerium der DDR gearbeitet hat. Auf „Westimporte“ hofft Isensee für die übrigen Stellen. „Wunderdinge kann man von uns nicht erwarten, zur Zeit stapeln sich hier eben die Akten“, sagte er mit Blick auf seine Papierberge.

Nicht Personal aufstocken, sondern abbauen muß derweil ein anderer „Westimport“, der auf der gleichen Etage des Justizministerium sitzt. Nobert Riedel, von der Braunschweiger Staatsanwaltschaft nach Magdeburg abgeordnet, bereitet das „Entscheidungsmaterial“ für die „Richterwahlauschüsse“ im Gebiet des ehemaligen Bezirks Magdeburg vor. Diesen Ausschüssen müssen laut Gesetz ein Landtagsabgeordneter, fünf im Proporz des Volkskammerwahlergebnisses berufene Kreistagsabgeordnete und den Vorsitzenden eingeschlossen fünf Juristen angehören. Alle Richter und Staatsanwälte, die übernommen werden wollen, müssen sich vor den Ausschüssen einer Prüfung auf „Verfassungstreue und Amtswürdigkeit“ unterziehen. „Ich sammle nur das Material für die Überprüfungen zusammen“, spielt Norbert Riedel zunächst seine Rolle herunter. 123 Richter und 66 Staatsanwälte haben sich ursprünglich über ihn beworben. Doch von den Staatsanwälten haben schon 22 „aus verschiedenen Gründen“ zurückgezogen. „Wenn wir keine Chance sehen, schlagen wir eine Aufhebung des Arbeitsverhältnisses im gegenseitigen Einvernehmen vor.“ Riedel forscht nach „Unrechtsurteilen oder einer Häufung von solchen Urteilen“, an denen Bewerber beteiligt waren. Er verlangt „Selbstauskünfte über Parteiämter in der DDR, nach Zeitdauer und Funktion gewichtet.“ Ihn interessiert, ob die Bewerber ihre Wehrpflicht bei den Grenztruppen abgeleistet haben und natürlich, ob sie für die Stasi gearbeitet haben. „Nur die Mitarbeit bei der Stasi ist sofort allein ein Ablehnungsgrund“, sagt er. Für gerecht hält er dieses Verfahren allerdings selbst nicht: „Das ist wie im Krieg, wer zufällig an die vorderste Front muß, kommt nicht zurück“, sagt er. Die besten Chancen hätten natürlich die Bewerber, die „nie in Versuchung gekommen sind, die laut Geschäftsverteilungsplan nur Verkerssachen oder Diebstähle zu behandeln hatten“. Im anderen Teil Sachsen-Anhalts, im ehemaligen Bezirk Halle, läuft die Prüfung der Bewerber bereits. „Wir haben hier in Halle seit März den ersten und einzigen arbeitsfähigen Auschuß in den neuen Bundesländern“, erklärt stolz der Stader Verwaltungsrichter Lutz Frohnecke, der nach Halle für die Vorprüfungen abgeordnet ist. Fünf bis sechs Fälle habe der Auschuß bisher pro Woche entschieden. Doch aus dem Ergebnis der über 30 Prüfungen möchte Frohnecke am liebsten ein Geheimnis machen. „Bestimmte Leute werfen uns doch gleich westlichen Kolonialismus vor“, rechtfertigt er sich, „aber ich könnte ihnen mal mein Gruselkabinett mit Urteilen, mit hohen Haftstrafen für bloße Meinungsäußerungen, öffnen.“ Der Auschuß stelle nicht die Schuld von Richtern und Staatsanwälten fest, sondern ob sie „den Bürgern noch zuzumuten sind“. Auf Umwegen, aus dem niedersächsischen Justizministerium, war jedoch jüngst zu erfahren, daß in Halle bisher nur die vier ehemaligen DDR-Juristen, die selbst dem Ausschuß angehören, und deren Ersatzmann die Übernahmeprüfung bestanden haben. Frohnecke will „dem nicht widersprechen“, betont aber, „daß es jeden Tag schon anders werden kann“. Binnen Jahresfrist will der Personalchef im Magdeburger Justizministerium, Hans Peter Isensee, eigentlich in Sachsen-Anhalt geordnete Justiz-Verhältnisse schaffen, obwohl es dort „bisher praktisch keine ausgebildeten Gerichtsvollzieher gibt“, und auch der Unterbau bei den Gerichten, die Zahl der Justizangestellten, „immer noch dürftig“ ist. Wenn sich allerdings der Hallenser Kahlschlag unter den Richtern fortsetzt, dann stehen auch Isensee die anarchischen Zeiten, steht der „Stillstand der Rechtspflege“ in den neuen Bundesländern noch bevor.