Nur ein Überleben

■ Ein Interview mit Herta Müller über antastbare Würde in Überfluß und Mangel, die rumänische Revolution und ihre Auflösung

Rüdiger Soldt: Die Derbheit des Landlebens wird in Ihrem Buch „Niederungen“ als befremdend und abstoßend beschrieben. Befremdet Sie auch der deutsche Wohlstandsrausch?

Herta Müller: Ich glaube — weil das Wort Derbheit gefallen ist —, daß es nur um Formen der Derbheit geht. Ein Huhn zu schlachten und dabei zuzusehen oder die nützlichen Pflanzen ständig vom sogenannten Unkraut zu befreien, ist nicht so verschieden, wie man zunächst vermuten könnte. Die Gedanken, die man sich dabei macht, wenn man es nicht als täglich, selbstverständlich empfinden kann, sind die gleichen Gedanken des Herausgeworfenseins aus der Selbstverständlichkeit der Dinge. Entfremdung in der Wohlstandsgesellschaft wird offensichtlich, wenn man zum Beispiel Werbeplakate betrachtet. Dort werden Menschen entstellt, mißbraucht und reduziert auf Waren. Nur: Ein totalitär politisches Ablenkungsmanöver eines Staates würde ich nie gleichsetzen mit dem des Konsums. Die Bevölkerung ist hier damit einverstanden. Sie läßt sich in diesen Sog ziehen.

Haben die Auswirkungen der Überfluß- und der Mangelgesellschaft etwas gemeinsam?

Ich glaube nicht. Eine Mangelgesellschaft ist furchtbar. Ein Land, in dem man die Grundnahrungsmittel nicht bekommt, ist eine einzige Erniedrigung; es entwürdigt den Menschen; es ist kein Leben, sondern nur ein Überleben. Und ich glaube, das Leben fängt erst da an, wo das Überleben garantiert ist. Und wenn man Nahrung mit der Angst kauft, sie nicht zu bekommen, einen Tag für sie Schlange steht, hat man so einen Überdruß und ist so erniedrigt, daß das Essen und man selbst, dadurch daß man es erworben hat, entstellt sind. Überfluß entwürdigt auf eine ganz andere Art und Weise. Überfluß geht nicht so an die Substanz. Was in dieser Gesellschaft entwürdigend ist, ist der Überfluß für die, die keinen Zugang zu ihm haben. Menschen, die das Geld nicht haben, die arbeitslos sind: Wie lange geht ein Mensch an glitzernden Schaufenstern vorbei?

Hat die sogenannte „intellektuelle Linke“ in Deutschland die Entwürdigung der Mangelgesellschaft verharmlost?

Ich glaube, daß die sogenannte Linke sehr lange die Realität in den osteuropäischen Ländern verdrängt hat und auch bewußt verdrängt hat. Leider ist die ganze schablonenhafte Kritik von den Rechten gekommen, und die Linke hat eigene Kritik an den totalitären Gesellschaften in Osteuropa aus der Hand gegeben. Ich glaube, das hatte auch damit zu tun, daß man sein Weltbild behalten wollte, und es mußte etwas geben, was der westlichen Gesellschaft entgegengesetzt werden konnte, das weit genug entfernt war, um es nicht als Betroffener ertragen zu müssen. Man war in einer völlig irrealen Sicherheit und hat das Weltbild von irgendwoher gehabt, um es dieser Gesellschaft entgegenzuhalten. Das Weltbild der Linken über den Sozialismus hat nie gestimmt — auch in den Jahrzehnten vorher nicht. Jetzt vesucht man so zu tun, als ob man bis zu den Revolutionen 1989 nicht gewußt habe, unter welchen Bedingungen die Menschen in diesen Ländern überhaupt leben. Man hat die Oppositionellen, die hierher kamen, um zu sagen, was dort passiert, sofort in die andere, rechte Ecke gestellt: Bei den Rechten waren es Linke und bei den Linken Rechte. Auch die offizielle Politik wollte mit Oppositionellen aus dem Osten nichts zu tun haben. Die Mächtigen von da haben den Mächtigen von dort die Hand geschüttelt. Václav Havel hat man noch vor zwei Jahren als Chaot und Querkopf bezeichnet, denn Havel war ständig im Knast, und mit so einem will man ja nichts zu tun haben. Opposition ist ja auch hierzulande nicht erwünscht. Denn: Wenn der dort Oppositioneller gewesen ist, könnte er ja auch hier Opposition üben.

Wie ist hier Ihre persönliche Erfahrung?

Im Unterschied zu 10.000 Rumäniendeutschen, die jährlich in die Bundesrepublik kommen und ihre Staatsbürgerschaft automatisch nach drei oder vier Monaten erhalten, hat man sie mir erst nach anderthalb Jahren gegeben. Wenn ich nachgefragt habe, hieß es ständig, es seien eindringliche Recherchen nötig. Ich weiß nicht, was man recherchiert hat. Ich gehörte zwar zur deutschen Minderheit, bin aber nicht über die Familienzusammenführung in die Bundesrepublik gekommen, sondern aus politischen Gründen. Da hat man sehr wohl einen Unterschied gemacht — zwischen mir und zehntausend anderen Personen. Und es geht sogar soweit, daß man die zur deutschen Minderheit gehörenden Aussiedler nicht nach ihrer Vergangenheit fragte. Das konnten Parteisekretäre sein — es spielte keine Rolle. Aber es spielte sofort eine Rolle, daß ich Oppositionelle war. Die wußten nicht, was sie mit mir hier anfangen sollten. Vorsichtshalber hat man mich deshalb wahrscheinlich als potentiell gefährliche Person eingeordnet. Ich bin sicher, daß man jeden anonymen Aussiedler in der Bundesrepublik lieber aufnimmt als einen Oppositionellen.

Flüchtlinge aus Osteuropa waren ja auch willkommen, weil sie zur Zeit des Kalten Krieges die Vorzüge des westlichen Systems bewiesen.

Es war kein Interesse an den Menschen oder an den Staaten. Was im Land geschieht, interessierte nicht. Man hat nicht gesagt, Kopelew muß in der Sowjetunion leben können, und sich dafür eingesetzt, sondern man hat ihn hier aufgenommen, und das Problem war geklärt. Die DDR war in dieser Logik liberal, weil sie so viele Dissidenten hat ausreisen lassen. Klar, daß sich in diesen Gesellschaften sehr wenig verändert hat.

Rumänien kann sich nicht wiedervereinigen. Ist dem Volk in Rumänien die Revolution durch eine Clique geraubt worden?

Ja, ich glaube das haben auch Leute, die in Rumänien leben, mittlerweile durch die Rekonstruktion von Tatsachen beweisen können. In Temeswar hat der Aufstand am 17.Dezember 1989 natürlich stattgefunden. In Bukarest hat die „Front der Nationalen Rettung“ von Iliescu, die es schon unter Ceausescu versteckt gegeben hat, in dem Augenblick, als sich die Revolution auf Bukarest übertrug, die Erhebung wie einen Spielball abgefangen und sich selbst in den Sattel gesetzt.

Welche Rolle spielt die Securitate heute in Rumänien?

Man hat sie nur verbal aufgelöst. Mit der Analyse des Phänomens hat man sich weniger beschäftigt. Die Securitate war eine Verbrecherorganisation, und die Partizipation war mindestens so groß wie in der DDR am Stasi. Es ist ja auch am Beispiel der DDR sichtbar geworden, wieviel Ausdauer notwendig ist, um einen solchen Apparat aufzulösen. Die Securitate wurde nur umgetauft; sie heißt jetzt Informationsdienst Rumäniens. Die Oppositionsparteien werden wieder anonym bedroht und eingeschüchtert und zusammgeschlagen, Telefone werden wieder abgehört und die Post zensiert. Die gleichen Gesichter sind nach und nach wieder aufgetaucht. Wo ein Geheimdienst in allen Institutionen ein und aus geht, kann es keine Demokratie geben.

Gibt es Ansätze zur Rechtsstaatlichkeit in Rumänien?

Nein, noch lange nicht.

Wie wird sich Rumänien weiterentwickeln?

Es hat sich ja gezeigt, daß ein intolerantes politisches System — wie zum Beispiel seinerzeit in Ungarn — nicht neben einer liberalen Wirtschaft existieren kann. Die Zugeständnisse, die Iliescu der Wirtschaft macht, sind nur mündlich. Es gibt keine Gesetze und eine große Unsicherheit. Eigeninitiative wird durch bürokratische Hürden systematisch unmöglich gemacht. Welcher Kapitalist kommt nach Rumänien und kauft diesen Schrott? Da gibt es viel attraktivere Möglichkeiten in Osteuropa. Die Machterhaltung ist das vorderste Gebot für Iliescu.

Stehen die Staaten, die sich 1989 von der stalinistischen Herrschaft befreit haben, jetzt vor der Wegscheide, entweder Demokratien oder durch Nationalitätenkonflikte zerrüttete Staaten zu werden?

Da hat Rumänien eine sehr üble Rolle gespielt, denn es war eine Nationaldiktatur. Man hat sich bewußt mit alten Helden identifiziert und auf alte Legenden bezogen: Ceausescu hat sich selbst so legitimiert; er hat bewußt gegen die ungarische Minderheit gehetzt. Das haben bestimmt sehr viele Leute verinnerlicht. Es gibt eine unangenehme Verknotung von Altstalinisten und Nationalchauvinisten. Antonescu hat die Roma — er war der Verbündete Hitlers im Zweiten Weltkrieg — in Konzentrationslager deportieren lassen. 35.000 von ihnen sind gestorben. Er wird jetzt von nationalistischen Blättern gefeiert. Die Leute sind für die unglaublichsten Dinge empfänglich.

Ist Hoffnung demnach ein vergessenes Wort in Rumänien?

Viele sind verbittert und haben die Hoffnung auf eine völlige Veränderung aufgegeben. Irgendeine Hoffnung, daß das Schlimmste nicht mehr eintritt, gibt es glaube ich schon. Diese totalitäre Repression, die den einfachsten Entwurf jedes Menschen unmöglich macht und über Leichen geht, gibt es nicht mehr. Doch für eine Demokratie, wie man sie sich hier im Westen vorstellt, gibt es überhaupt noch keine Ansätze.

Ist Rumänien der Verlierer des Umbruchs in Osteuropa?

Ja, denn das Land war mit anderen Ländern nur bedingt zu vergleichen. Es herrschte eine Diktatur, die sich auf den Personenkult gestützt hat und nationalgeprägter Kommunismus war. Außerdem sind die Kirchenvertreter die Exekutanten des Regimes gewesen. Es gab keine organisierte Opposition, es gab keine Samisdat. Das spürt man jetzt wieder.

Wie geht Rumänien mit den Konsumverlockungen des Westens um? Die leere Cola-Dose ist zu einem Symbol geworden.

Das war schon immer so. Ich finde das ist eine traurige Variante der Entzugserscheinungen in der DDR. Für die Leute dort ist eine Cola-Dose ja keine Cola-Dose, weil sie die Form und die Farbe und den Inhalt einer solchen Dose nicht als Selbstverständlichkeit kennen. Eine Cola- Dose ist nur dann eine Cola-Dose, wenn ich täglich Cola trinken kann. Wenn ich nie eine Cola-Dose gesehen und nie Cola getrunken habe, dann ist eine Cola-Dose keine Cola- Dose. Das rechtfertigt alles, führt zu dieser Großäugigkeit. Es ist nicht nur der Wunsch zu konsumieren, man wünscht sich damit auch eine andere Gesellschaft und eine andere Lebenssituation, obwohl der Gegenstand einen dann gerade wieder herunterdrückt, weil man den Gegenstand ja als leere Nippsache hat — und als Nippsache gekauft hat.

Das Gespräch führte Rüdiger Soldt.

Von Herta Müller erschien zuletzt „Der Teufel sitzt im Spiegel“ beim Rotbuch Verlag