: Identität: Sonstige
György Dalos' Roman über eine ungarisch-jüdisch-kommunistische Pubertät ■ Von Helmuth Frauendorfer
Es gibt bereits eine Vielzahl von Büchern, die sich mit den stalinistischen Nachkriegsjahren in Osteuropa befassen — Bücher, die bis vor einigen Jahren entweder im Exil geschrieben oder aber nur im Ausland veröffentlicht wurden und neuerdings, seit in den betreffenden Ländern auch diese Zeitspanne nicht mehr tabu ist, auch in ihrem „Ursprungsland“ erscheinen. Es sind dies nicht immer literarisch-ästhetisch anspruchsvolle Bücher: dem (verständlichen) Drang, diese düstere und verdrängte Vergangenheit aufzuzeigen, einen Beitrag zur Aufarbeitung derselben zu leisten, wird oft Vorrang gewährt.
György Dalos (in Wien und, seit es ihm wieder ermöglicht wurde, auch in Ungarn lebender Schriftsteller), dem deutschen Lesepublikum vor allem als brillanter Essayist bekannt, setzt in seinem Roman Die Beschneidung andere Prioritäten — zumindest auf den ersten Blick. Dalos erzählt mit großer und zugleich ironisch-distanzierter Fabulierlust die Geschichte des Robi Singer, der, gerade im pubertären Alter, der Welt in die Ritzen zu schauen beginnt. Selbstverständlich beginnt die Identitätssuche damit, daß man gern etwas anderes sein möchte, als man ist.
Und Robi Singer hat in der Tat schlechte Voraussetzungen mitgebracht: Er ist fett und aufgeschwemmt, an der linken Hand hat er verkrüppelte Finger, sein Schwanz ist kleiner als der anderer gleichaltriger Kollegen. Hinzu kommt, daß er keinen Wintermantel besitzt. Und es ist kalt. Wenn er sich mit seiner physischen Ausstattung auch allmählich zurecht- bzw. einen Ausgleich dazu findet („Obwohl Robi Singer eine so abfällige Meinung über sein Äußeres hegte, war er doch heimlich stolz auf seine Seele und seinen Verstand“), so bleiben ihm doch große Schwierigkeiten mit seiner Identität. Denn er ist Jude, geht aber mit der Mutter in eine Kirche für christgläubige Juden, er ist Ungar und soll auf Wunsch der Großmutter auch noch Kommunist sein, er besucht ein jüdisches Heim für Halb- und Vollwaisen, und er ist nicht beschnitten, der „ewige Vertrag mit dem Herrgott“ ist noch nicht geschlossen. Zu seiner Identität gibt die Großmutter ihm das Rezept, er solle sagen, er sei „ungarisch-jüdischer Kommunist. Damit liegst du auf jeden Fall richtig.“
Robi beginnt zu analysieren, nachzudenken über Begriffe und Personen, mit denen er diese Begriffe wenn schon nicht identifizieren, so doch mindestens in einen Zusammenhang bringen kann. Hierin besteht die Stärke dieses Romans: in der durch Kinderperspektive fingierten Unschuld des Grotesken, in der infantilen scharfsinnigen Analyse. Kaum ein Erwachsener könnte die Welt mit so zwingender Logik auf den Kopf und zugleich auch in Frage stellen.
Langsam bröckelt ab, was ihm als heile Kindheit, aber auch als glückliches Leben der Mutter vorgemacht bzw. von der Großmutter erfunden wurde. Eine Welt voller Selbsttäuschung und Selbstbetrug tritt zum Vorschein. Hinter all dem Witz und der Ironie verbirgt sich eine zutiefst tragische Dimension, verkörpert vor allem in der Gestalt der Mutter. Die leidet an fast allen Krankheiten außer an einer („Welch ein Massel, daß meine Mutter nicht an Sinnlichkeit leidet“, sagt Robi Singer einmal, als er zu wissen meint, was Sinnlichkeit ist), kann keine Treppe mehr allein hochsteigen, ist Witwe und hält selbst während der Spaziergänge mit ihrem Verehrer die Handtasche fest an die Brust gedrückt — eine Gewohnheit aus der Zeit, als sie den gelben Stern an der Brust tragen mußte.
In dieser detailliert und liebevoll beschriebene Fassade des kleinbürgerlichen Überlebenswillens bricht immer wieder auch die Gewalt der Machthaber ein: das jüdische Waisenhaus wird von den kommunistischen Machthabern beschlagnahmt, es ist die Rede von Auswanderungsträumen, von Umstrukturierungen, von Armut und Elend, und eine Christin sagt Robi, Christ und Kommunist gleichzeitig sein zu wollen ist so, „als wäre man gleichzeitig Gefangener und Gefängniswärter“.
Und da sind wir wieder beim Grundproblem von Robi Singer. Ursprünglich wollte er es allen recht machen: den Christen, den Juden, den Ungarn und den Kommunisten, und er war bereit, alles zu sein. Doch nun steht er vor einer Entscheidung: Er soll sehr bald beschnitten werden. Er hat (physische) Angst davor, er weigert sich. Empörung und Verblüffung läßt Lehrer und Schüler erstarren. Nur die Großmutter handelt: Sie verzichtet darauf, ihre legendäre Prämie von der Genossenschaft abwarten und kauft ihm gleich einen Wintermantel. Als er dann in die staatliche Schule an der Stalinstraße eingeschrieben werden soll, wird auch seine Identität geklärt. Da er in keine Rubrik hineinpaßt — Klassenzugehörigkeit war gefragt —, weder Arbeiter, noch Bauer, noch Intellektueller, wird er eingetragen unter „Sonstige“.
György Dalos: Die Beschneidung . Eine Geschichte. Aus dem Ungarischen von György Dalos und Elsbeth Zylla, Insel Verlag, 196 Seiten, 26 DM
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