Treue und Trübung des Blicks

Hans Mayers Erinnerungen an die DDR  ■ Von Michael Bienert

Wenn es ein Prinzip Hoffnung gibt und geben soll, woraus läßt es sich herleiten? Aus Wünschen, Tagträumen, Absichtserklärungen, die eine bessere Welt im Sinn haben? Was aber, wenn die Träumenden, Hoffenden im wirklich gelebten Leben eine Spur von Blut und Verwüstung hinter sich her ziehen?

Mit diesem Problem müssen sich alle abplagen, die darauf setzen, daß ein Prinzip Hoffnung durch linke Politik verwirklicht werden soll. Zuviel Unheil ist im Namen gesellschaftlicher Utopien angerichtet worden. Es ist aber bloß ein billiger Verdrängungsmechanismus, mit dem Finger auf eine Handvoll Schuldiger zu zeigen und das Problem etwa mit dem Schlagwort „Stalinismus“ abzuhaken. Jede politische Bewegung hat die Führer, die sie verdient.

Genausowenig ist es konstruktiv, sich die vermeintlich unbelasteten Ansätze und Vorbildfiguren aus der Geschichte der linken Bewegung herauszupicken und daraus ein neues Leitbild zusammzuklittern. Das einzige, was eine neue Basis schaffen könnte, wäre gründliche Trauerarbeit. Wo sie verweigert wird, wo die Wurzeln von linkem Versagen, linker Destruktivität und humanistisch verbrämter Inhumanität nicht gesehen werden wollen, sind neue Katastrophen vorprogrammiert.

Ausgerechnet Johannes R. Becher, der Staatsdichter und erste Kulturminister der DDR, hat gelegentlich einen überraschend scharfen Blick auf diese Wurzeln geworfen. Turm von Babel heißt ein Gedicht aus den fünfziger Jahren, in dem er den Untergang des utopischen Projekts eines sozialistischen Staates auf deutschem Boden vorwegnehmend beschrieb: „Gerüchte aber schwirren, / Die Wahrheit wird verschwiegen. / Die Herzen sich verwirren — / So hoch sind wir gestiegen. // Das Wort wird zur Vokabel, / um sinnlos zu verhallen. / Es wird der Turm zu Babel / Im Sturz zu nichts zerfallen.“

Brudermord, Selbstvergötterung, Selbstbetrug, ideologische Sprache, Gefühlsverwirrung — das Gedicht nennt alle die Krankheiten der linken Bewegung, die zum politischen Fiasko führen mußten. Hans Mayer, zu Zeiten Bechers maßgeblich am Aufbau des kulturellen Lebens in der SBZ/DDR beteiligt, hat das Gedicht ausgegraben und seine Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik danach benannt. Es hätte der Ausgangspunkt für eine kritische, sicher schmerzhafte Situation der Illusionen jener Jahre sein können. Statt dessen versuchte sich Mayer an einer Apologie der frühen DDR — und ist kläglich gescheitert.

Auf der Suche nach utopischen Anhaltspunkten, die durch den Zusammenbruch des Staatsgebildes DDR nicht widerlegt werden, stößt er zunächst auf ein Foto vom 21.April 1946. Die westliche Geschichtsschreibung vermerkt unter diesem Datum die „Zwangsvereinigung“ von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Auf dem Foto reichen sich die Parteivorsitzenden Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck die Hände. Es überzeugt, wenn Hans Mayer darauf besteht, daß diese Geste nicht aus der Perspektive des Kalten Krieges gedeutet werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Kommunisten auch in den Westsektoren in allen wichtigen Gremien vertreten; Karl Eduard von Schnitzler arbeitete damals als Chefredakteur beim Kölner Nordwestdeutschen Rundfunk. Mayer kann auch glaubhaft machen, daß Pieck und Grotewohl sich von den besten Absichten leiten ließen. Sie hatten die verhängnisvolle Zersplitterung der Linken in der Weimarer Republik vor Augen und sich durchgerungen, einen Schlußstrich unter die unselige Vergangenheit zu ziehen, um eine starke demokratische Kraft zu formieren.

So weit, so gut. Bei der Bewertung dieser Geste gerät Mayer aber sprachlich unversehens in die Nähe des hohlen linken Pathos, das den trostlosen sozialistischen Alltag vierzig Jahre lang mit einem falschen Glanz überzog:

„Im Augenblick jener feierlichen Beschwörung von Freundschaft und Kameradschaft durch den Kommunisten Wilhelm Pieck und den Sozialdemokraten Otto Grotewohl war das, in einer Welt des langsamen Aufatmens und Hoffens, eine Entscheidung, die vielen Deutschen in den vier Besatzungszonen von Herzen kam. Der Händedruck, als er noch von zwei bemerkenswerten Menschen vollzogen wurde, schien eine neue Spur zu bedeuten. Eine Spur des Prinzips Hoffnung.“

Durch Porträts der beiden „bemerkenswerten Menschen“ aus seiner Erinnerung will Mayer die These stützen. Doch fallen seine Porträts nicht nur blaß und unscharf aus, sie wecken gerade Zweifel an der Integrität der beiden Hoffnungsträger. Sicher waren sie aus anderem Holz geschnitzt als die Polizistenmörder Ulbricht und Mielke. Aber wie kann man jemanden zum Träger des Prinzips Hoffnung erklären, der wie Pieck immer bereit war, „die jeweils neue Parteilinie mit den amtlich vorgeschriebenen Vokabeln rednerisch nachzuvollziehen“? Einen Mann, der nur deshalb KPD-Vorsitzender im Nachkriegsdeutschland wurde, weil er im Moskauer Exil nicht gegen die Ermordung von „Parteifreunden“ aufgemuckt hatte? „Man weiß nicht, was er gefühlt hat“, kommentiert Mayer; um dann in die posierenden alten Herren auf dem Foto freundschaftliche Gefühle hineinzuprojizieren. Seine retrospektive Suche nach der Utopie entwickelt sich aufgrund mangelnder Anhaltspunkte zum hilflosen Eiertanz. Das eilig heruntergeschriebene und zusammengeflickte Buch mit allen seinen Unschärfen und Widersprüchen ist für die LeserInnen eine Zumutung. Zwanzig Seiten nach der pathetischen Ausdeutung des historischen Händedrucks unterläuft Mayer die Formulierung, es sei ein „Teufelspakt“ gewesen und habe „auf alle Fälle (!) die Unterwerfung unter den Stalinismus bedeutet“. Mal formuliert er: „Die real existierende DDR war ein Staat Walter Ulbrichts.“ Hundert Seiten später: „Nicht der schlimme Ulbricht und der doch wohl unfähige Erich Honecker sind zu assoziieren, wenn nachgedacht wird über die vierzig Jahre jenes deutschen Staatsgebildes, sondern viele Menschen, die es am Leben hielten und immer wieder auch Anlaß fanden, ihm zu vertrauen.“ Nicht einmal eine verkehrte Position kann Mayer durchhalten, geschweige denn sich aus den manifesten Widersprüchen zu Erkenntnissen durchringen. Anstatt uns „Nachgeborenen“ mit seiner Erfahrung zu helfen, wälzt er den Wust seiner Erinnerungen auf uns ab.

Erich Honecker nimmt er mit dem Argument in Schutz, jener habe im Grunde aus „zwei in vielen Zügen sehr divergierenden Menschen“ bestanden. Aber seit wann wiegt das freundliche Lächeln eines Staatenlenkers die Monstrosität des Gebildes auf, dem er vorsteht? Es ist mir richtig peinlich, Hans Mayer, aus dessen Charakterstudie über Goethe ich viel gelernt habe, das passende Goethewort zu zitieren, aber es muß sein: „Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.“

Den unbewältigten Schmerz und die tiefere Einsicht hat Hans Mayer in einem Exkurs halb versteckt. Es handelt sich um eine kurze, auf authentischen Erfahrungen beruhende Erzählung, die mitten in das Buch eingeschaltet ist. Offenbar konnte der Autor nur in literarischer Verkleidung zur Sprache bringen, was der Ausgangspunkt seiner Erinnerungsarbeit hätte sein müssen: die Leiden der Opfer und die maßlose Verblendung der Täter. Im übrigen Text herrscht ein unangenehmes Ungleichgewicht zwischen der Sympathiewerbung für die Überlebenden des Moskauer Exils einerseits und der kommentarlosen Aufzählung der Ermordeten andererseits. Der Exkurs erzählt von zwei Täter-Opfern, von Hanna und Kurt, die während des Krieges in Genf einen sowjetischen Geheimdienst betrieben. Zum Dank wurden die beiden im Sommer 1945 nach Moskau geholt und verschwanden im Gulag.

Als Kurt in den fünfziger Jahren wieder bei Hans Mayer in Leipzig auftaucht, ist die Frage, wo er gesteckt hat, tabu. Nur dadurch, daß man nicht offen über die Opfer redete und mit ihnen fühlte, ließ sich ja die Illusion aufrechterhalten, man arbeite im Dienst der guten Sache. Das Tabu wirkt bis heute in Mayers Sprache nach, und es dürfte auch der Grund dafür sein, warum seine Erinnerungen so blaß und trübe wirken.

Dann bricht doch die Wahrheit in die Scheinwelt der beiden Männer ein. Durch einen Zufall findet Kurt die todkranke Hanna in einer Nervenklinik wieder. Als Kurt das Krankenzimmer betritt, schreit sie mit letzter Kraft: „Schafft ihn weg! Schafft ihn weg! Ich soll ihm verraten helfen! Aber ich verrate sie nicht, die Sowjetunion.“

In der Deutung dieser Geschichte entwickelt Hans Mayer die geistige Schärfe, die von ihm zu erwarten war und deren Fehlen im übrigen so maßlos enttäuscht. Er schreibt: „Menschen mit einem Doppelleben können es anders nicht halten. Sie sind zugleich Biederleute und Monstren, wobei das Monstrum die doppelte Lebensführung erzwingt. Selbst wurden sie abstrakt durch die Aufgabe, die sie zu lösen hatten. Dabei wird nicht geholfen. Die Aufgabe verhindert das unmittelbare Leben. Man lebt fortan mittelbar: auf diese Aufgabe hin. Bis schließlich die Aufgabe das Leben nicht bloß reguliert, sondern zerstört.“ Am Ende steht die „Flucht in die sinnlose Treue, um die Gesamtlüge nicht ertragen zu müssen.“

Etwas von dieser sinnlosen Treue, wenn auch stark abgemildert und gebrochen, trübt auch Hans Mayers Erinnerungsarbeit. Sie hat ihn zu einem sinnlosen Versuch verführt, in der Frühzeit der DDR Spuren der Utopie zu suchen. Vielleicht hätten sie sich sogar finden lassen — in der Dimension des Alltags oder im Verhalten von Leuten, die nicht zur politischen oder intellektuellen Elite zählten. Davon ist in Mayers Buch aber kaum die Rede.

Das trotzige Hochhalten von alten Hoffnungen bringt nichts. Die Reinigung von Illusionen, Lebenslügen und der latenten Destruktivität im linken Lager setzte die Bereitschaft zur Trauerarbeit voraus. Wenn es ein Prinzip Hoffnung gibt und geben soll, dann leitet es sich nicht von postulierten Idealen her, sondern zuallererst von der Kraft zur Wahrnehmung der Realität.

Hans Mayer: Der Turm zu Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik , Suhrkamp Verlag, 272 S., gebunden, 32 DM