Therapeutische Selbsthilfegruppe

Anmerkungen zum diesjährigen Fernsehwettbewerb „Prix Futura“ in Berlin  ■ Von Dietmar Hochmuth

Der SFB baut an, jeder Bauherr braucht einen Bauzaun, jeder Bauzaun ist ein „Werbeträger“. Den gibt der SFB aber nicht weg: als habe er es selbst am nötigsten, wirbt er für den „Sender Frohes Berlin“, Nachrichten von heute seien die Zeitung von morgen. Und damit zeichnet sich auch schon das Dilemma eines Fernsehfestivals ab: TV ist Wegwerfware, nichts ist so alt wie die Tagesschau vom Vortag, Fernsehen für den Tag und dessen Abend produziert, oder für sehr viel später, wenn z.B. eines Tages für die Enkel oder die Augenzeugen zum Erinnern wieder einmal die WDR-Produktion Wer zu spät kommt — das Politbüro erlebt die deutsche Revolution herausgeholt wird, um aufzufrischen, wer Erich Honecker war und wer Hans-Christian Blech, „damals, als die Mauer fiel“. Jetzt, ein halbes Jahr nach der Ursendung, sehen sich selbst die besten Produktionen an wie Exponate aus der Mediothek eines Rundfunkmuseums, wenn es denn so was in Deutschland bald gäbe!

Filmfestivals leben davon, daß sie unbekannte Filme präsentieren, auf Weltpremieren sozusagen — Fernsehfestivals tun das Gegenteil, sie erinnern an Produktionen, die in dem einen oder anderen Land erfolgreich waren und durch regionale Ausstrahlung anders als Filme (amerikanische insbesondere) nie aus ihrer Provinzregion herauskämen ohne solche Wettbewerbe und die Chance zu erdumspannender Wirkung erhielten. Fernsehfilme und -spiele der letzten zwei Jahre, sortiert nach „fiction“ und „documentaries“, in diesem Jahr auch noch „day“ und „night“ liefen in einem Wettbewerb, der da mit „Futura“ in seinem französisch- lateinischen Namen operierend und seiner englischen Konferenzsprache sich einen kaum definierbaren Anspruch gibt, auf den er daher auch nicht recht festzunageln ist. Auf dem Arbeitsfestival präsentierten sich 120 Produktionen aus dem Massenmedium Fernsehen, doch nahezu unter Ausschluß der täglich löffelweise TV-konsumierenden Öffentlichkeit. Herausgehalten wurde aber nicht nur das Publikum, auch alles, was nicht TV in Reinkultur ist, fernab also vom Diktat der Einschaltquoten, vom „programmstrategischen Alltag“.

Der derbe Vormarsch der „Privaten“ blieb ausgegrenzt. Ebenso alles, was mit Experiment, der Kreuzung von TV-Wegwerfware und Videokunst zu tun hätte. Mal abgesehen von dem Tremolo, das bei den Veranstaltern aufkommen muß, wenn es um den Prix Futura, seine aufwendige Vorbereitung und Abwicklung (Pardon, dieses Wort ist zur Zeit anderweitig besetzt) geht. Ein bißchen haben die Sitzungen nach den Programmen („discussion“ und das penibel-demokratische „voting“) etwas von einer therapeutischen Selbsthilfegruppe, in der ein ganz bestimmter Menschenschlag dominiert: Fernsehredakteurinnen so ab 40, tätig im mündlichen Genre: im Reden übers Fernsehen. So klafft da eine Lücke zwischen würdigem Rahmen und dem Pathos, was Wegwerfware nun mal aufzubringen hat. Auch der Festivalort, das Haus des Rundfunks in der Masurenallee, mit seinem gekachelten Foyer, einer Mischung aus Postamt und Stadtbad, wollte nicht recht den beschworenen Arbeitscharakter aufkommen lassen. „Change“ — so lautete das diesjährige Codewort des Wettbewerbs und meinte mehr Wandel als Wechsel, natürlich den in Osteuropa. Zuviel ist seit dem letzten Prix Futura anders geworden, auch in Berlin. Die Bedingung allerdings, daß die Einreichungen durch entweder „headphones“ oder gleich per „overvoice“ ins Englische zu bringen waren, macht die Filme freilich alle sehr ähnlich in der Wahrnehmung, um nicht sogar zu sagen, gleich. Nur extrem eigenwillige Bildsprache (aus Japan etwa) ragt da aus dieser Uniformierung. Beraubt um die auditive Ebene, taucht auch die Sprache der Darsteller oder eines engagierten Reporters ab in das gleichförmig lupenreine BBC-Englisch eines Reiseführers. „Change“ zeigte sich in den Themen und Einreichern, für viele ist das, was kalter Ostblock oder sozialistische Länder hieß, zum telegenen Pilgerort geworden. Amerikaner drehten unentwegt in der UdSSR, ein Tscheche (zusammen mit einem US-Team) in Armenien, wo ihm doch das eigene Land vor lauter Nationalitätenzwist unterm Hintern wegbricht und zerbröselt. Tallins Hotel Narva wurde von Schweden beäugt usw.

Ein großes Defizit war aufzuholen. Das, was während des Kalten Kriegs draußen blieb und wohl seitdem Dritte Welt heißt, ist jetzt nach dem Fast-Wegfall der Zweiten nicht etwa aufgerückt, sondern präsentierte sich in einem eigenen Ausscheid von TransTel. Ein Wettbewerb bringt es auch mit sich, daß Unvergleichbares nebeneinander steht, die kleine Impression neben dem großen Feature, das gestylte Pausenbild neben einer ambitionierten Kinoimitation. Es ist schon kein leichtes Unterfangen, alle Länder und Formen unter einen Hut der Verständigung zu bringen.

Auch in der deutschen Fernsehlandschaft hat sich beileibe einiges getan seit dem letzten Prix Futura, ein ganzes Teilnehmerland ist diesmal weniger angetreten (obwohl es insgesamt immer noch 69 waren, aus denen 500 Teilnehmer kamen). Der Osten Deutschlands regionalisiert sich, während die großen Anstalten im Altwesten von Integrationsanspruch reden, wohl einem Synonym für: Alles bleibt beim alten und wird noch ein bißchen besser (SFB). Der Halbfrequenznachfolger des DDR-Fernsehens wird abgewickelt, aber wickelt sich auch selber ab: Etliche Sendungen haben ihre Spitzmarke rascher gewechselt als der Zuschauer hinterherkam. Man erkennt eine Sendung nicht am neuen Namen, sondern an der alten Redaktion. So lief aus Adlershof ein Beitrag über die Frau des Kanzlerberaters Guillaume. Natürlich heißt der Beitrag heute Ein Leben mit der Lüge, ein bißchen hurtig, will mir scheinen, vor allem wenn man bedenkt, daß die öffentliche Diskussion deutsch-deutsche Spione aus dem Scherbenhaufen der Stasi herauszulassen beginnt. Der Klartext will mir weismachen, daß Guillaume zunächst seine Frau mit diesem Staat, dann mit einer anderen betrogen hat. Das hat die Weinerlichkeit, die solche Sendungen nun mal atmen: „Wir wurden alle nur betrogen.“ Das ist mir alles ein bißchen zu munter, vielleicht aber nur, weil die Erinnerung an ein inzwischen hinfälliges Projekt desselben Regisseurs (Gunther Scholz) noch zu frisch ist: Kurz vor Toresschluß (bzw. -öffnung) wollte er sich noch mit einem Filmteam an die Kufen von Katharina Witt heften und die ganze weite Welt umkreisen.

Auch das sowjetische Fernsehen, bestimmt einst das größte der Welt, regionalisiert sich, benennt sich um, so daß da Orientierungshilfen fehlen. Hier könnte sein, daß beim nächsten Festival mehr Länder als diesmal antreten, da es noch hieß: „USSR — Estonia“. A propros nächstes Mal: Kultursenator Roloff-Mommin sagte zum Abschluß vieldeutig: Spätestens seit dem 3. Oktober sei in Berlin nichts mehr, wie es einmal war, und nichts bleibe, wie es ist. Hoffentlich trifft das im behutsamen Proportionen gleichsam für das Ritual dieses Festivals und seine Zirkelmentalität zu, hier gäbe es allerhand „zu dynamisieren“, denn sonst könnte der strapazierte Satz vom Zuspätkommen gelten, den Gorbatschow übrigens (wenigstens russisch) so nie gesagt hat.

Über den Hörfunkwettbewerb berichten wir morgen.