Die Revolution als Perpetuum mobile

■ Zur Gustav-Klucis-Ausstellung in Kassel

Am 11.2.1921 diskutieren sowjetische Avantgardisten im Moskauer „Institut für künstlerische Kultur“ (INChUK) das Axionometrische Gemälde des Letten Gustav Klucis. Während Ljubov Popova „eine durchkomponierte, geschmacksorientierte Anordnung von Flächen“ konstatiert, existiert für Alexander Rodtschenko „nicht einmal eine Komposition“. Wer war dieser Gustav Klucis, dessen Bild zwischen Dekoration und mangelnder Organisation nicht eben günstig beurteilt wird und der während der schnell wechselnden „Ismen“-Zeit der frühen sowjetischen Kunst um Einlaß in die Reihen der heroischen Avantgarde bat?

Am 16.1.1895 geboren und am 11.2.1938 wegen Mitgliedschaft in einer „lettisch-faschistisch-nationalistischen Organisation“ vom NKWD zum Tode verurteilt (dies ist die letzte authentische Nachricht über Klucis' Leben), gehört Gustav Klucis zu den jungen Menschen, die die Oktoberrevolution als ihre Revolution begriffen und Kunst als Propagierung der neuen Gesellschaft verstanden. In einem 1924 von ihm mitverfaßten Text wendet er sich entschieden gegen die Malereifakultät der Moskauer Gestaltungsschule, die parallel und vor dem deutschen „Bauhaus“ den herkömmlichen Kunstschulenaufbau zugunsten eines interdiszplinären Laboratoriums aufgab. Sie solle, fordert Klucis, zusammen mit der Skulpturfakultät in eine Agitationsabteilung umgewandelt werden, „um die künstlerischen Bedürfnisse der Revolution zu erfüllen“. Sie werde „das Maschinengewehr in den Händen der Arbeiterklasse sein, das mit roten Spezialisten“ feuere.

Zuvor hatte Klucis bereits eigene Agitationsprojekte entworfen, darunter zahlreiche Pläne für audiovisuelle Tribünen: Gemeinsam war ihnen allen die elementargeometrische Holzrahmenkonstruktion mit ergänzenden Seilzügen, die die Geräte der Propaganda aufnahmen. Seine Grammophone besitzen keine Kurbeln oder Stromleitungen, auch die Aufzüge der Rednertribünen werden ohne Energie von außen in Bewegung gesetzt: die Revolution als Perpetuum mobile.

Klucis' Kunstobjekte zur Durchdringung des Alltags mit Politik blieben unausgeführt wie so vieles, von dem Architekten und Künstler in der jungen Sowjetunion träumten. Sie fungierten aber als Vorbilder für einfache Ausstellungsstände und Regale, Beispiele frühen montierbaren Mobiliars, das in einigen Beispielen für die Kasseler Ausstellung rekonstruiert wurde.

Statt an Konstruktionen, die auf dem Papier bleiben, arbeitet Klucis ab 1924 fast ausschließlich an und mit dem Papier: seine Fotomontagen für Buchillustrationen und Plakate gehören zu den Pionierleistungen der Text-Foto-Zeichnung-Verbindung. Anfänglich noch deutlich von seinen Agitationsprojekten beeinflußt, die sich gleichsam als Ausschnitt und Dokumentation einer vorangegangenen Werkphase in den Illustrationen zu Erzählungen Juri Libedinskijs wiederfinden, verzichtet Klucis zunehmend auf gezeichnete Elemente und hilft der Wirklichkeit mit dem eigenen Fotoapparat nach. Für das Plakat Sozialistische Rekonstruktion von 1927 schlüpft Klcuis ins Arbeiterkostüm, der flächig gegriffene Koffer wird in der Plakatmontage durch ein Musterbild funktionaler Architektur ersetzt, der Vergleich mit den Verkleidungen Varvara Stepanovas als Komsomolzin drängt sich auf. Trotz der Heroik des von Klucis verkörperten „Riese Proletariat“ bleibt Platz für Witz: Ein sich aus dem Himmel beugender Arbeiter hämmert der Basilius-Kathedrale das Turmkreuz herunter. Und durch die gegenläufige Bewegung der Arbeiterfiguren auf der Montage wird die Pathetik des proletarischen Helden relativiert, die Rekonstruktion Moskaus erfolgt zwar in sozialistischem Arbeitstempo, aber an verschiedenen Schauplätzen und keinesfalls in Marschordnung.

Genau diese Darstellung verschiedener Möglichkeiten zum Erreichen eines Zieles wird Klucis in der Folge zugunsten eines glättenden, eindeutig auf ein Ziel ausgerichteten Bildaufbaus aufgeben; die Werktätigen werden zunehmend durch die politisch Verantwortlichen ersetzt, diese wiederum weichen zuletzt der Apotheose Stalins.

Besonders anhand des in Ausstellung und Katalog dokumentierten Gestaltungsprozesses von der ersten Skizze bis zum fertigen Plakat läßt sich diese Veränderung festmachen. In der ersten Skizze zu Die Realität unseres Programms sind die lebenden Menschen, das sind Du und ich, einem Plakat von 1931, läuft Stalin mit Arbeiterkolonnen in der ersten Reihe vor Industrieneubauten. Die Produkte der neuen Gesellschaft, die in diesem Entwurf noch breiten Raum einnehmen, werden in der Folge aus dem Bild genommen. Damit einhergehend, gelangt Stalin in der Vordergrund, wird dann durch die weiße Kleidung von der (grauen) Arbeitermasse abgesetzt und zuletzt durch die Laufrichtung und den Kopfabstand der Masse entzogen. Im fertigen Plakat läuft Stalin aus der Bildmitte nach vorne, beherrscht die Komposition zusätzlich durch eine von ihm stammende Losung, die als Titelzeile über der Figurengruppe steht.

Die Montagen werden zunehmend malerisch, verlieren die grelle Agitationsfarbigkeit zugunsten einer Annäherung an naturalistische Farbgebung; am Ende dieser Entwicklung thronen die bolschewistischen Götter in den Wolken.

Was mit der Adaption damaliger neuer Medien begann, endet im Personenkult, der zunehmende Einsatz realistischer Abbildungstechniken geht einher mit dem für Klucis zuletzt tödlichen Mißverstehen der Realität. Der Gestalter, der sich in den Dienst der Revolution stellt, erhält in der Person Klucis' so viele einander widersprechende Züge, daß er zum Prototyp der gescheiterten, sich der Produktion verpflichtet fühlenden Avantgarde wird: Der Lette, der seinen Namen russifiziert, dann aber als „lettisch-faschistisch-nationalistisch“ zum Tode verurteilt wird, der Verherrlicher der als wirklich behaupteten gewünschten neuen Gesellschaft, der mit dem Futuristen und ZAUM-Sprachenerfinder Alexej Krucenych, der sich eben dieser vorgegaukelten neuen Gesellschaft verweigert, Freundschaft hält, der künstlerische Konstrukteur, der Innovation durch Wiederholung ersetzt — gerettet haben ihn seine Zurücknahme früherer Positionen, seine aus Überzeugung erfolgte Anpassung an Doktrine nicht. Sein Tod bleibt ein Verbrechen, für das auch diese Ausstellung keine Wiedergutmachung sein kann. Jörg Stürzebecher

Gustav Klucis — Ausstellung im Museum Fridericianum Kassel, Friedrichsplatz, noch bis 26. Mai (montags geschlossen). Anschließend (11.6.-29.7.) im Centro der Arte Reina Sofia, Madrid. — Der 396 Seiten starke, durchgehend illustrierte monographische Katalog kostet an der Museumskasse DM 68, gebunden im Buchhandel DM 88.