Hier steht unser Louvre

Der georgische Filmemacher Otar Iosseliani in Berlin. Ein Gespräch  ■ Von Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth

Die große Berliner Altbauwohnung in der Innsbrucker Straße steht fast leer. Weiße Wände, nur ein paar Fotos hier und da: ein Mädchen mit zwei Kindern auf den Knien, der Papst und der Hausherr selbst, im Anzug und mit Schlips; eine Schönheit aus der Zeit der Jahrhundertwende, eine Zeichnung — fliegende Linien, ein großes Stück Packpapier mit vier deutschen Verben darauf: schneiden — geschnitten, helfen — geholfen (du hast mir beim Deutschsprechen geholfen), schicken — geschickt, bleiben — geblieben. In der Mitte des Zimmers steht ein Synthesizer, auf einem Tisch in der Ecke ein Apple Macintosh, aus dem Drucker schlängelt sich ein Blatt mit exotischen Schriftzeichen. Otar Iosseliani, ein georgischer Kosmopolit zwischen Paris, Tbilissi, Moskau und der Toscana, jetzt in Berlin — als Stipendiat des Wissenschaftskollegs. Das „Arsenal“ zeigt zur Zeit eine fast komplette Retrospektive seiner Filme. Seit zehn Jahren lebt er vornehmlich in Frankreich. In Berlin schneidet er gewöhnlich seine Filme und erarbeitet ihre Musikpartitur.

Wie fühlt sich ein Georgier im Ausland?

Otar Iosseliani: Wenn man gezwungen war, wegzugehen, ist es immer schwer. Viele meiner Freunde und ich sind weggegangen, weil plötzlich etwas Wichtiges, Substantielles verschwunden war. Vielleicht das, was gewöhnlich als Milieu bezeichnet wird. Hier kann ich arbeiten, also lebe ich hier.

Wann haben Sie den Gedanken aufgegeben, in Georgien wieder arbeiten zu können?

Zu Breschnews Zeiten habe ich acht Jahre lang versucht, einen neuen Film zu machen, und es klappte nicht. Dann fuhr ich weg, um meinen

Beruf nicht vollends aufgeben zu müssen. Danach kehrte ich zurück und versuchte wieder, einen Film anzufangen. Wieder klappte es nicht. Dann fing dieses Chaos mit der Perestroika an, und mir wurde endgültig klar, daß nichts mehr geht.

Haben Sie die allgemeine Perestroika-Euphorie etwa nicht geteilt?

Sie hat von Anfang an keine Hoffnung in mir geweckt. Es gab einen Moment, etwa 1988, da dachte ich, es könnte ein Wunder geschehen. Doch dieser Augenblick verflog im Nu.

Hing Ihre Entscheidung, nach Frankreich zu gehen, mit einer besonderen Affinität zur französischen Kultur zusammen? Oder war die Himmelsrichtung von Sprachkenntnissen diktiert?

Viel einfacher: Es war das einzige Land, wo mir Arbeit angeboten wurde.

Kritiker suchen überall nach Gesetzmäßigkeiten. Ihr erster Film „April“ sieht aus wie eine Hommage an Jacques Tati, einen russischen Franzosen: dieselbe Leichtigkeit, eine ähnliche Art der Komik, eine von Tati inspirierte exzentrische Arbeit mit dem Ton. „Die Günstlinge des Mondes“ passen sich problemlos in die französische Tradition ein, wenn auch in die Bunuels.

Es gibt Menschen, denen das italienische Kino nahesteht. Es gibt Menschen, denen das amerikanische Kino nahesteht. Es gibt sogar welche, denen das schwedische Kino zusagt. Nur der deutsche Film steht wahrscheinlich keinem nahe, da es ihn nicht gibt. Der Reiz des französischen Films spielte für mich natürlich eine große Rolle. Ich hoffte, daß es dort ein kulturelles Milieu gibt, das Milieu von Clair, Méliès, Carné, der Nouvelle vague... Es stellte sich aber heraus, daß das alles längst vorbei ist. Ich mußte bei Null anfangen.

Also gab es dort auch nicht das Milieu, weswegen Sie eigentlich aus Georgien weggegangen sind?

Wenn ich von Milieu spreche, meine ich nicht die „Szene“, sondern Wurzeln. In Georgien gab es in der Zeit meiner Jugend eine alte Generation, die eine Art Brücke zur Vergangenheit bildete. Dann ist sie spurlos verschwunden, die Situation wurde unerträglich. Was verschwand, war eine besondere „Kulturbrühe“, in der wir kochten, die uns Kraft gab, auch eine andere Werteskala, gegen die staatstragende Sowjetkunst. Wir wußten, für wen wir Filme drehten und an wen sie adressiert sind. Als dieses Mileu verschwand, entlud sich auch der Akku unserer Aktivität. Unser Zuschauer verflüchtigte sich.

Dabei schien uns immer, daß Ihre georgischen Flme, die eine Art Trilogie bilden, behutsam und doch gnadenlos die Mythen des georgischen Lebens, die stereotypen Bilder vom georgischen Paradies zerstörten. „Blätterfall“ kippte das nationale Heiligtum, indem es zeigte, wie man in Georgien heute Wein macht. „Singdrossel“ betrachtete ohne sentimentale Rührung das Stereotyp des Georgiers als ewiger Epikureer, einen „Hedonisten“, im heutigen durchschnittlichen Großstadtstreß. Und „Pastorale“ ließ nichts von der Verklärung Georgiens als letzter intakter Landidylle übrig.

Die Mythenbildung im Film ist mit der Mythenbildung in der Staatspropaganda verwandt. Auch wenn der georgische Filmmythos auf dem Boden eines historischen Gedächtnisses wurzelt, also folkloristischer und sittlicher Kriterien — was ihn mehr oder weniger sympathisch macht. Trotzdem war es ein Mythos. Die georgische Intelligenz hatte früher stets versucht, ein rationalisiertes Verhältnis zu den nationalen Mythen durchzusetzen. Diese Intelligenz wurde vernichtet, und es blieb nichts anderes übrig, als zu versuchen, nüchtern auf den Bestand dieser Mythen im heutigen Alltag zu schauen, ohne die Grenze der Behutsamkeit zu übertreten. Aber selbst in diesem zärtlichen, vorsichtigen Umgang witterte die Zensur Gefahr; meine Filme waren zu einer marginalen Existenz verdammt.

(Auf dem Keyboard liegen aufgeschlagene Noten: Übungen von Czerny, Beethoven-Sonaten. Iosseliani trainiert die Finger. Nachdem er sich beide Arme gebrochen hatte — ein Berliner Motorradfahrer... —, gehorchen sie ihm noch nicht wieder so gut.)

Musik spielt in Ihren Filmen eine besondere Rolle, nicht als Untermalung — sondern als kompositorisches Prinzip: Die Handlungsstränge sind nach den Gesetzen des Kontrapunkts organisiert. Die Streichquartettproben in „Pastorale“ oder „Die Günstlinge des Mondes“ thematisieren diese Technik geradezu...

Die Entscheidung für eine musikalische Komposition als Entfaltung von Zeit war eine formale — als Gegengewicht zur dramatischen Form, zur Entwicklung der Ereignisse nach dem Kollisionsprinzip. Im Film entrollen sich einige Episoden, die dann wieder miteinander verknüpft werden, und diese Verknüpfung folgt den Gesetzen des Kontrapunkts.

Weg von den Zwängen dramaturgischer Erzählklischees?

Wir wollten bekannte Formen der Sujetentwicklung vermeiden — Erwartung, Geheimnis, Überraschung, Wende, Höhepunkt, Entspannung usw. Das alles haben wir über Bord geworfen, um dem freien Lauf des Lebensflusses mehr zu entsprechen, dem Objekt und der Entwicklung von Gedanken adäquater zu werden.

Ein großer sowjetischer Kameramann bewundert Ihre Filme, meint jedoch, sei seien so aufgenommen, als hätten Sie einen Standfotografen dafür engagiert. Waren Ihre Schwarzweißfilme eine provokative Geste — gegen die georgische Schönheit? Diese „Unterdrückung“ des Visuellen verwundert um so mehr, da Sie Ihre Filme immer — vor dem Drehen — komplett durchzeichnen...

Wir hatten nicht die richtigen Kameramänner bei der Hand, um den Hauptakzent auf das Bild zu (ver)legen. Wenn die Aussage ausschließlich durch Bildqualitäten geformt werden muß, ist man dazu verdammt, zuviel Zeit zu opfern. Das hat bisher nur ein Mensch in der Welt geschafft, und noch dazu bei nur einem einzigen Film: Orson Welles in Citizen Kane, der von Gregg Toland fotografiert wurde. Vielleicht noch Eisenstein in Iwan der Schreckliche. Das mystische Geheimnis kommt in diesem Film vom Bild her. Aber schon die italienischen Neorealisten interessierten sich mehr für Dynamik, die Entwicklung der emotionalen Regungen, als dafür, wie das auf die Technik von Dürer-Graphiken oder das Schattenspiel bei Caravaggio projiziert wird. Ich verzichtete auf die Bildeffekte, weil mir kein Gregg Toland zur Verfügung stand. Außerdem mag ich nicht, wenn man aus einem Film ein, zwei Einzelbilder herausreißen kann, die für sich stehen. Kino ist Bewegung, ich ziehe es vor, lieber dem inneren Sinn der

Gesten und Ereignisse zu folgen, als Licht- und Schatteneffekte zu genießen. Alle meine Filme sind eher ohne Raffinesse aufgenommen, und doch arbeite ich in meinen Zeichnungen sehr streng die Bewegung durch, wie sie im Bildausschnitt organisiert und zu sehen ist. Das hat mit Tafelmalerei zu tun.

Wie haben Sie „Und es ward Licht“ gedreht? Wie Flaherty oder Cavalcanti — zunächst das Leben beobachtet, dann die Geschichte konstruiert —, oder kamen Sie mit einer fertigen Idee, die Sie dem Dorf übergestülpt haben?

Gegenwärtig ist ein Prozeß in Gang, der für alle Ecken der Erde typisch ist, in denen die Kulturen kurz vor dem Verschwinden stehen, egal ob in Georgien oder in russischen Dörfern. Die ländliche Kultur ist so gut wie in allen Ländern Europas eliminiert. Das gilt für die Kulturen der Ewenken, der Eskimos, der Njenzen... Wenn ich einen solchen Film in Tibet drehen könnte, würde ich mich sofort für Tibet entscheiden. Doch dorthin kommt man nicht, wie Sie wissen, und drehen darf man da auch nicht, also ging ich nach Afrika. Das Drehbuch war noch nicht geschrieben. Zunächst wollte ich sehen, wie es dort aussieht, verbrachte zwei Wochen vor Ort und sah, daß bereits alles vernichtet, zerfallen ist — keine Reste der alten Kultur oder Naturbindung. Alles war nur noch zum Verkaufen, zertrampelt, kapitalisiert... Deshalb ließ ich den Gedanken ethnographischer Stimmigkeit ganz schnell fallen. Ich wollte nicht in die Gefangenschaft einer konkreten Ethnografie geraten und einen Fakt analysieren müssen; mir schwebte eine Parabel vor, die für alle dahinsinkenden Kulturen typisch ist. Ich müßte nur eine Reihe ethnographischer Konventionen erfinden, ein komplexes Paket von Traditionen zusammenzustellen, die in ihrer inneren Logik stimmig wären, ohne sie an einen konkreten Stamm zu binden. Die Menschen, die das gespielt haben, verstanden sehr gut: Das ist nicht über sie, aber so ungefähr könnte es sein.

Und wie fanden Sie mit Ihren Darstellern eine gemeinsame Sprache?

Wir Menschen sind wie Hunde. Wie riechen einander. Hunde verstehen auf Anhieb, ob sie Freunde oder Feinde sind. Auch wir haben alle einen eigenen Geruch, eine Aura. Wenn diese nicht zusammenpassen, muß man miteinander nicht kommunizieren. Aber wenn du nichts Böses im Schilde führst, dann kann es klappen. Ich zeige den Darstellern viel. Dazu braucht man wenig Worte. Bei uns gibt es einen Regisseur, der mit den Schauspielern lange „vorher“ flüstert und ihnen alles erklärt: Juli Raisman. Deshalb sind die Darsteller bei ihm so ernst und blaß. Wenn er ihnen etwas zeigen würde, würden sie vielleicht lockerer wirken, lustiger.

In welcher Kulturregion ist Ihr neues Projekt angesiedelt?

Filme mag ich nicht erzählen.

Uns interessiert nicht die Geschichte, sondern der Kulturkreis.

Mein nächster Film spielt in Frankreich. Ein Freund von mir, der russische Exilschriftsteller Wojnowitsch, meint zwar, es spiele keine Rolle, wo man wohnt. Ich sehe das etwas anders. Ich glaube, daß es allen gefallen würde, zum Beispiel in Italien zu leben. Oder in Griechenland. Oder in Mexiko. Aber nicht allen würde Grönland gefallen. Deshalb gab es immer wieder Kriege um Länder, die eben einigen mehr gefallen haben. Griechenland wurde von Fremden erobert. Die Menschen mit den großen Nasen, die dort heute leben und meinen, sie seien Griechen, sind es eigentlich nicht. Sie sprechen auch kein Griechisch mehr, das ist ein Argot und hat nichts zu tun mit der Sprache Hellas. Durch Ägypten wandern Menschen, die zwar sehr patriotisch um die Rückeroberung der Sarkophage besorgt sind, doch ebenfalls nichts mit den alten Ägyptern zu tun haben. Ich werde einen Film in Frankreich darüber drehen, was passiert, wenn Menschen weggehen und andere an ihrer Stelle

kommen und hier ein neues Leben anfangen. Das Leben, das Druiden, Etrusker und weiß der Teufel wer vor ihnen hier führten, spielt keine Rolle mehr. Die Franzosen haben die halbe Welt kolonisiert und zu Frankreich erklärt, nun kommt diese Welt nach Frankreich, und es geht so etwas wie eine Rückeroberung vor sich. Auch Russen kommen dorthin und werden Franzosen, bald werden sie einem erzählen: Hier steht unser Louvre und da unsere Notre Dame. Schon will man die Sprache reformieren, da das „klassische Französisch“ für die Abkömmlinge zu schwer ist. Was bleibt dann noch von Frankreich, was passiert mit dem Leben, wenn auf derselben Erde etwas anderes beginnt?

Wie sehen Sie durch das Prisma so vieler dahinsinkender Kulturen Ihr Georgien von heute?

Georgien wurde im 20.Jahrhundert viermal ausgemerzt: 1921, 1924, 1937, 1949. Ein Freund erzählte mir mal, wie er durch einen Wald bei Moskau spazieren ging. Es war ein häßlicher Wald, nur Espen. „Warum ist das so?“, fragte er den Förster. „Weil der Wald abgeholzt wurde“, antwortete der. „Schauen Sie, dort erhebt sich eine Eiche und hier eine Kiefer, vielleicht wird es in 15, 20 Jahren hier wieder schön sein, doch wenn man es noch einmal abholzt, dann passiert gar nichts mehr, dann wachsen hier nur noch Espen!“ In Georgien ist heute — nach regelmäßigem Abholzen — eben nur die Espe geblieben. Mit Espe meine ich jene von den Bolschewiki durchgesetzte parasitäre Weltordnung (nehmen, ohne zu geben). Das wuchert jetzt in Georgien ganz wild.

(Wurde dieses „bolschewistische“ Modell nicht etwa von einem Georgier namens Dshugaschwili alias Stalin erfunden? Doch dieses angebotene Thema führt unserem Gesprächspartner zu weit, und so kehren wir zum Film zurück, über die Mathematik:)

Sie haben die mathematische Fakultät absolviert. Wie hat das Ihre Welt- und Filmsicht geprägt?

Ich habe die Mathematik verlassen, weil ich nichts mit Raketen, Bomben und dergleichen zu tun haben wollte. Die Absage an die Mathematik war absolut bewußt. Freunde haben mir geholfen zu begreifen, wohin das führt, denn viele sahen das nicht. Auch so ein Mann wie Sacharow nicht. Er hat die Bombe gemacht. Er hat es zwar bereut, doch er hat sie gemacht. Es ist schwer, sich die Süße des Denkens zu nehmen und sich der Verführung einer Entdeckung zu entziehen.

In Ihren Filmen kann man den Mathematiker aber noch entdecken. Sie sind durchdacht, fast ausgerechnet — vom ersten bis zum letzten Bild, die Episodensplitter folgen einer strengen Logik. Und dabei entwickelt sich jede Szene aus der chaotischen Bewegung, aus der Dynamik des Selbstlaufs, der dem Leben innewohnt.

Ich weiß nicht, ob das durch die Mathematik bedingt ist. Einerseits möchte ich extrem klar sein, und andererseits mag ich es, eine Szene zu drehen, sie einfach laufen zu lassen. Wenn ich am Ende all diese autonomen Szenen montiere, baue ich eine Konstruktion auf, die den Eindruck eines Flusses ergeben soll. Vielleicht waren da irgendwelche mathematischen Übungen behilflich. Sie wissen, die Mathematiker sind von einem tiefen Stolz durchdrungen: Sie glauben, nur sie können denken, alle anderen überlegen nur.

Was mögen Sie am meisten: Erfinden, Drehen, Schneiden?

Mit dem Erfinden habe ich nichts zu tun. Das kommt von selbst. Oder nicht. Diese Arbeit verläuft ohne meine bewußte Anstrengung — im Unterbewußten. Ich bin sicher, man kann nichts erfinden, und Gott allein weiß, was in den Menschen vor sich geht. Das Drehen mag ich überhaupt nicht. Man muß mit zu vielen Menschen kommunizieren, alles wird nicht so, wie du es gewollt hast. Du mußt ständig manövrieren, um den Selbstlauf der Dinge zurück in die gewünschte Richtung zu lenken. Und die Arbeit am Schneidetisch...? Das ist ein Rettungsakt aus auswegloser Situation. Da bleibt mir nur, das einigermaßen zu retten, was beim Drehen geklappt hat. Eine quälende Arbeit, aber wenigstens eine selbständige. Ich montiere immer allein, ohne Cutterin.

Seit wann geben Sie Interviews? Wenn wir uns richtig erinnern, mieden Sie in der Sowjetunion Journalisten...

Dort war ein Interview immer die Erklärung zum Film. Du mußtest ausbreiten, was du sagen wolltest. Hier versuche ich, nicht die Filme zu erklären, sondern ein Stück meiner Weltsicht, die mit den Filmen vielleicht nur bedingt zu tun hat. Wenn das einer liest und es an seine Art zu Denken anklingt, dann ist schon viel erreicht: Er hört auf, Einsamkeit zu empfinden.