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Ost-/Westdeutschland: Das Gefälle ist noch größer  ■ Von Dietmar Bartz

Gerade einmal drei Seiten ist die Presseerklärung des Statistischen Bundesamtes lang, doch sie hat es in sich: Erstmals können nun volkswirtschaftliche Daten aus Ost- und Westdeutschland miteinander verglichen werden. Nach etlichen Mühen und einer mehrwöchigen Verzögerung ist es der Wiesbadener Behörde gelungen, die Systematik der Ost-Erhebungen dem im Westen gewohnten Zahlenwerk anzupassen. Wenn auch längst noch nicht alle Statistiken umgestellt sind: in den wichtigsten Bereichen der „Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“, so die Fachbezeichnung, läßt sich jetzt etwas genauer diskutieren, auch wenn der ökonomische Kollaps im Osten schneller geht, als die StatistikerInnen mit ihren Zahlenwerken nachkommen. Zur Beschäftigtenzahl, hatte Amtspräsident Hölder schon vor zwei Wochen bekanntgegeben, müßte im Prinzip alle drei Monate eine neue Stichprobe gemacht werden.

Immerhin sind jetzt die Zeiten des „Statistischen Bruchs“ vorbei, in denen die Wirtschaftsdaten aus der alten DDR, in Mark ausgedrückt, recht beziehungslos neben den DM- Angaben standen. Die jetzt veröffentlichten Zahlen umfassen mit dem 2. Halbjahr '90 den Zeitraum zwischen der Währungsunion und Jahresende. Um längere Zeitreihen zu bekommen, ist auch eine Rückberechnung nach West-Systematik in die Vergangenheit geplant; aber deren Ergebnisse werden noch einige Zeit auf sich warten lassen.

Die wichtigsten Ergebnisse einstweilen: Das Gefälle zwischen Ost- und Westdeutschland war schon im 2. Halbjahr '90 größer als allgemein geschätzt. Das Bruttosozialprodukt (BSP), der umfassendste Ausdruck der wirtschaftlichen Leistung einer Volkswirtschaft, belief sich auf nur rund 105 Milliarden DM; im Westen war es mit 1,27 Billionen DM fast das Zwölffache (siehe Tabelle).

Um beide Zahlen miteinander vergleichen zu können, ist die Aufschlüsselung pro Kopf nötig. Danach entfielen auf die 16,4 Millionen Ostdeutschen je 6.408 DM, auf die 62,7 Millionen Westdeutschen je 20.250 DM, oder: die Ostdeutschen erwirtschafteten in jenem Halbjahr nur 31,6 Prozent des westdeutschen BSP. Dies ist nicht mit der Lohnsumme zu verwechseln: das BSP ist die Summe aller Güter und Dienstleistungen, die in einem bestimmten Zeitraum erzeugt wurden, abzüglich der bei ihrer Produktion verbrauchten Güter.

Ein weiteres erstaunliches Ergebnis: Die alte Behauptung, die DDR sei die zehntgrößte Industrienation der Erde gewesen, ist ohnehin arg fraglich geworden, weil sie aus der Substanz heraus gewirtschaftet hat und der Verfall gegenüber den Modernisierungsinvestitionen weit überwogen hat. Doch auch die ostdeutsche BSP-Rechnung läßt die Behauptung fraglich werden. Denn im internationalen Vergleich lag Ostdeutschland nach einer groben Schätzung 1990 höchstens auf Rang 23.

Dazu wurde das Pro-Kopf-BSP kurzerhand verdoppelt, um auf den Jahresbetrag zu kommen, und diese 12.800 DM zum 90er Durchschnittspreis von 1,60 DM in Dollar umgerechnet. Im Vergleich zu den jüngsten verfügbaren Weltbank-Angaben von 1989 liegt Ostdeutschland damit auf Platz 30, und OPEC-Staaten sowie Länder wie Hongkong und Singapur herausgenommen, immer noch erst auf Platz 23, zwischen Irland und Zypern. Auch wenn der wirtschaftliche Zusammenbruch in Ostdeutschland zu jener Zeit schon längst begonnen hat — um auf Platz 10 zu kommen, hätte in der DDR eine Wirtschaft wie in den Niederlanden existieren müssen, eine absurde Vorstellung.

37 Prozent der Westlöhne

Absurd niedrig ist aber auch die Lohn- und Gehaltssumme je Erwerbstätigen: Sie betrug nur 1.357 DM/Monat — brutto. In der Alt- BRD waren es zur gleichen Zeit durchschnittlich rund 3.670 DM. Damit verdienten die Ost-Beschäftigten nur 37 Prozent der West-Beschäftigten. Dennoch lagen sie — die Gewerkschaften werden es wegen der Tarifverhandlungen ungern hören — mit diesem Satz noch deutlich über ihrer Produktivität von nur 28,5 Prozent der Westsumme je Erwerbstätigen. Sie wird errechnet, indem das Bruttoinlandsprodukt (BIP) durch die Zahl der Erwerbstätigen geteilt wird. Das BIP unterscheidet sich vom BSP, weil es nur die inländische Wirtschaftsleistung berücksichtigt.

Die Zahl der Erwerbstätigen betrug durchschnittlich 8,361 Millionen. Innerhalb des Halbjahreszeitraums stieg die Zahl der Arbeitslosen von 142.000 auf 642.000 Personen; die offizielle Arbeitslosenquote stieg damit von 1,6 auf 7,3 Prozent. Die Zahl der KurzarbeiterInnen erhöhte sich zwischen dem 31.7. und 31.12.90 von 656.000 auf 1,794 Millionen.

Dominanz der Industrie

Aufschlußreich ist auch, daß trotz des deutlichen Rückgangs der industriellen Produktion im „Berichtszeitraum“ der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung mit noch 44 Prozent über dem 40-Prozent-Anteil der Alt-BRD liegt. Im Klartext: Industrie war im Osten wichtiger als im Westen. Umgekehrt: Nahm im Westen der Dienstleistungsbereich einen Anteil von 29 Prozent ein, waren es im Osten nur 17 Prozent. Der Rest bis 100 Prozent setzt sich aus Landwirtschaft, Staat, Organisationen ohne Erwerbszweck u.ä. zusammen.

Weil die Statistiken der Erwerbstätigkeit noch nicht umgestellt sind, läßt sich leider die Produktivität nach Wirtschaftsbereichen noch nicht feststellen. Dann ist beispielsweise auch möglich, den Agrarsektor und die LPGen nicht nur betriebs-, sondern auch volkswirtschaftlich unter die Lupe zu nehmen. Insgesamt ist aber nicht damit zu rechnen, daß sich von der durchschnittlichen Produktivität sonderlich deutliche Abweichungen nach oben oder unten ergeben.

Die letzte inländische Verwendung — also der Bereich, in dem die Güter letztlich gelandet sind — übersteigt das Bruttosozialprodukt um fast 38 Milliarden DM. Dies ist der Importschwemme aus den Altbundesländern und dem Ausland zu verdanken, mit dem die Exporte bei weitem nicht mithalten konnten. Hier machen die Statistiker wegen des Chaos an den alten innerdeutschen Grenzen allerdings einige Vorbehalte und eigene Schätzungen geltend.

Überall sehr niedrige Investitionen

Deutlich mehr als in der Alt-BRD floß in den ostdeutschen Ländern in den privaten Verbrauch — 64,1 Prozent gegenüber 56,2 Prozent in der BRD. Auch der Anteil des Staatsverbrauchs, nicht überraschend, lag mit 25,6 Prozent über den 20,2 Prozent der BRD. Folge: Die Investitionen, sei es für die Erhaltung oder den Ausbau, lagen mit 10,4 Prozent überaus deutlich hinter denen des Westens mit seinen 23,6 Prozent.

Auch je Arbeitsplatz gerechnet, lagen die Ausrüstungsinvestitionen mit nur 25,9 Prozent (Arbeitsplatz Ost/Arbeitsplatz West) noch unterhalb der Prozentsätze für Bruttosozialprodukt und Produktivität — ein Beleg dafür, daß in Ostdeutschland weiterhin aus der Substanz produziert wird.

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