ESSAY
: Führen Sie uns, Herr Mandela!

■ Offener Brief des südafrikanischen Schriftstellers Breyten Breytenbach

Lieber Herr Mandela,

Gerade habe ich einige Tage in Natal verbracht. Ich wurde durch Kloof gefahren, an den teuersten Grundstücken Südafrikas vorbei, wahrlich ein Paradies für die weißen Reichen auf den Anhöhen Durbans. Dann, einen Steinwurf entfernt, fiel der Blick auf sanfte Hügel, auf die Armutshütten von Kwazulu. Über die Straßen wanderte das Vieh, junge Arbeitslose lümmelten vor einem heruntergekommenen Krämerladen, kleine Kinder wanderten auf dem Rückweg von der Schule durch das Tal. Die herrliche Isolation des kolonialen Luxus und die verzweifelte Isolation der schwarzen Löcher nebeneinander.

Mehr noch: dies war Kriegsgebiet. Man kann sehen, wo „Comradeland“ endet und „Inkathaland“ beginnt. Auf einer Seite die Verwüstung abgedeckter Häuser und abgebrannter Schulen, ihre Bewohner auf der Flucht. Auf der anderen Seite die Maispflanzungen und Mangobäume, wo die Warlords herrschen. Wie man mir erklärte, kann man auf der Anhöhe sitzen und die Inkatha-Impis beobachten, wenn sie herunterstoßen und den „Abschaum“ der Christen oder der Kommunisten oder der Lehrer oder der Studenten „verjagen“. Kombis voller Feuerwaffen fahren entlang der Reihen, um Mordwaffen zu verteilen und einzusammeln. In einem kreisenden Hubschrauber besichtigen Buthelezi und Polizeiminister Vlok das Schlachtfeld. „Gebt mir Beweise“, würde Vlok später sagen. Und: „Der ANC ist der gemeinsame Nenner aller Gewalt.“

Ich lauschte dem schrillen Ton in den Stimmen der Überlebenden und der Leichenzähler, derjenigen, die sich betrinken und so lachen, wie es nur Ausgebombte tun. Ich hörte, daß nur die physische Anwesenheit einiger besorgter Weißer in den Townships die Polizei daran hindern kann, das Morden zu decken und zu fördern.

Der Staat hat den ANC ausgetrickst. Ein leitender Regierungsminister meinte mir gegenüber, daß es aus Sicht der Regierung ein Vakuum unterhalb der ANC-Spitze gebe und daß die niederen Chargen nur am Geld interessiert seien. Das kann nur heißen: Die Regierung versuchte und versucht immer noch, Sie einzukaufen, um Sie von Ihren Anhängern zu spalten. Kann man es ihr übelnehmen angesichts der Schwäche des „Feindes“ — des ANC? Es kostete nur verblichene Illusionen, wenn Sie klarstellen würden, daß der ANC seiner eigenen Propaganda und seiner Kreation unerfüllbarer Mythen und Hoffnungen zum Opfer gefallen ist: daß etwa der „bewaffnete Kampf“ ein Weg zur Befreiung darstellen könnte; daß man die Weißen zur „Machtübergabe“ bringen könnte; daß die Welt sich ob unseres Leidensweges sorgt und uns Solidarität schuldet.

Wir müssen uns der bitteren Erkenntnis stellen: der ANC ist (noch) keine demokratische Organisation, er weist noch immer einen auf Einschüchterung gegründeten hegemonialen Zug auf, er war nie ein Brennpunkt der Revolution. Der ANC ist eine Widerstandsbewegung, geprägt vom Leiden ganzer Generationen; er verkörpert die Suche eines Volkes nach Gerechtigkeit, er ist die einzige Organisation, die zur Bewahrung und vielleicht zur Realisierung des südafrikanischen Traumes in der Lage ist. Und er ist dabei, seinen Weg zu einer verantwortlicheren politischen Struktur zu ertasten (und zuweilen zu erschleichen).

Sie, mein Herr, müssen uns den Weg zeigen, indem Sie zugeben, daß das weinerliche Beharren auf Sanktionen in einer an Amnesie und wiederkehrendem Rassismus leidenden Welt, in der das Geld immer in Richtung Ausbeutungschancen fließt, kontraproduktiv ist. Warum sollten wir das Märchen und die Absurdität eines Kulturboykotts aufrechterhalten, der mittelmäßige Kulturkommissionen und Möchtegern-Impressarios etabliert? Wir müssen dem Bann einer „Sicherheitskultur“ entkommen, dem Bann von Geheimniskrämerei und Geheimgesellschaften, von Kabale und Manipulation, von Willkür und Einschüchterung, Instrumentalisierung und Elitarismus, von Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben und menschlicher Würde.

Auf irgendeine Weise müssen wir alle den Willen der Nation ausdrücken, welcher heißt: beenden wir die Gewalt, werden wir produktiv und autonom, um uns von der Demütigung der milden Gaben zu befreien, ändern wir die Wirtschaftsstrukturen, die aus der Apartheid hervorgehen und von ihr profitieren, und beginnen wir so mit der Verringerung der Kluft zwischen Unter- und Überernährten, um die Bedingungen der Demokratie zu schaffen, um den Grundstein für eine Gesellschaft zu legen, auf die wir stolz sein können.

Wir brauchen Wahlen auf kommunaler und regionaler und nationaler Ebene, wir brauchen eine gewählte Verfassunggebende Versammlung, wie brauchen in der Zwischenzeit eine neutrale geschäftsführende Autorität — eine Übergangsregierung oder irgendeine Form internationaler Überwachung. Und all dies kann nur aus nachhaltiger Volksmobilisierung und Volksbeteiligung kommen (aber lassen wir doch diese Terminologie aus dem 19. Jahrhundert, die von „Massen“ spricht!) und aus mutiger und weitsichtiger Führung.

Sie werden vielleicht fragen: Warum schreibe ich diesen Brief nicht an Präsident de Klerk? Ich bin fest überzeugt: Wir erleben immer noch den geplanten Schrecken eines Apartheidstaates im Todeskampf, in dem ein fähiger und motivierter Staatsapparat eine Politik der moralisch, politisch und menschlich verbrannten Erde praktiziert.

Für mich steht außer Zweifel, daß diese Auflösung programmiert war: eine spitzfindige Handhabung der Mittel, eine Ausnutzung der veränderten Weltlage, eine Destabilisierung der Bevölkerung, ein Wettlauf um heuchlerische „Anerkennung“ und falsche „Moral“ (auf der Basis nationaler Massaker!), eine Verschleppung des Verhandlungsprozesses — in der Hoffnung, der ANC würde „auf afrikanische Art“ ethnisch erodieren, sein Rückgrat gebrochen durch innere Widersprüche und unter dem Gewicht allgemeiner Erwartungen. Präsident de Klerk ist in den Händen von Ungeheuern, Geschöpfen eines totalitären und zutiefst unmoralischen Staates.

Ich bin der festen Überzeugung: dieser Krieg ist nie beendet worden. „Verhandlungen“ bedeuteten für die Machthaber ein Mittel zur Weiterführung des Krieges gegen die Menschen Südafrikas. Ich glaube auch, daß es niemals eine „dritte Kraft“ gab. Von Anfang an war Inkatha als eine nationale Vigilanten-Truppe gedacht. Nun hat die Regierung Buthelezi ihre blutroten Hände entgegengestreckt, um ihn in eine Position von nationaler Ausstrahlung zu erheben.

Kurzfristig mag die Regierung diesen Krieg gewinnen, sie mag ihr Parlamentarierforum aus der Tasche ziehen und sich mit Inkatha und abtrünnigen oder korrupten Kommunalführern verbünden. Sie kann zerstören wie in Mosambik, Angola und Namibia — aufbauen aber kann sie letztendlich nicht. Den Frieden kann sie nicht gewinnen. Man kann nicht gegen die Mehrheit regieren. Der „Sieg“ der Regierung wird ein Pyrrhussieg sein. Er birgt den Keim von Südafrikas endgültigem Untergang in sich.

Mein Herr, ich habe Ihnen geschrieben aus dieser Verhärtung des Herzens heraus, aus dieser Vision des angekündigten Todes, um den Weinenden in den Townships meine Stimme an die Seite zu stellen. Und um zu bekräftigen: was auch immer kommen möge, Ihr Kampf ist auch der meine. Wenn Sie die Führung übernehmen.

In brüderlicher Hochachtung,

Breyten Breytenbach

Aus der Johannesburger 'Sunday Times‘ vom 21.4.91 Übersetzung: D.J.