Politischer Generalstreik in Minsk

■ Zehntausende forderten gestern die Ausrufung der Unabhängigkeit Weißrußlands und die Enteignung der Kommunistischen Partei/ Konservative verschärfen Druck auf Gorbatschow

Moskau (afp/taz) — Dramatisch spitzt sich die Lage in Weißrußland zu. Am Dienstagnachmittag versamelte sich eine riesige Menge auf dem Leninplatz in Minsk. Die Demonstranten forderten eine außerordentliche Tagung des weißrussischen Sowjet, auf der die Unabhängigkeit Weißrußlands beschlossen werden soll. Zehntausende zogen vor den Regierungspalast. Nach Angaben von Oppositionellen handelt es sich dabei vor allem um Delegierte der Belegschaften, da aufgrund von Beschlüssen der Arbeiter in wichtigen Betrieben weitergearbeitet wird, um die Versorgung aufrechtzuerhalten. Andere Quellen sprechen von der Androhung von Repressalien gegenüber den ArbeiterInnen. Die Arbeiter drohten ihrerseits, einen Generalstreik bis zum 21.Mai durchzuführen.

Der Konflikt in Belorußland hatte sich am 20. April verschärft, nachdem der Vorsitzende des Obersten Sowjet der Republik, Dementjew, durch eine Anordnung die zwanzigminütige tägliche Sendezeit im Fernsehen annullierte, deren Zuteilung eine Voraussetzung seitens der Streikenden für Verhandlungen mit der belorussischen Regierung bildete. Der Beschluß erfolgte „in Verbindung mit dem Ende der Verhandlungen“. Am Montag hatten sich die Streikenden und die weißrussische Regierung zunächst auf einen Kompromiß bei den zentralen Streikforderungen verständigt. Nach der Grundsatzeinigung sollen die Löhne in den Fabriken bis zum Jahresende mehr als verdoppelt werden. Darüber hinaus wurde den Unternehmen erlaubt, einen Teil ihrer Gewinne zum Einkauf von Lebensmitteln zu verwenden. Die Betriebssteuern sollen von 45 auf 35 Prozent gesenkt, die von Präsident Michail Gorbatschow verordnete fünfprozentige Mehrwertsteuer auf Nahrungsmittel aufgehoben werden.

Inzwischen mehren sich Meldungen über Druck auf Streikkommiteemitglieder von oben, Vorladungen zur Staatsanwaltschaft und Entlassungsdrohungen. Das Minsker Streikkommitee hatte deshalb vorgestern eine Reihe von Apellen verkündet: „An die Bevölkerung Belorußlands“, „An die Bauern“ undsoweiter. In dem Appell „An die Soldaten“ heißt es:

„Die entscheidende Stunde ist angebrochen. Am 23. April wird in Minsk und anderen Industriezentren Weißrußlands der politische Streik wieder aufgenommen. Wir haben keinen anderen Ausweg, so kann man nicht weiterleben. Die fruchtlosen Verhandlungen mit den Vertretern des Obersten Sowjets der BSSR haben uns davon überzeugt, daß die Partei- und Staatsnomenklatura die Gesellschaft bewußt in einen Abgrund von Armut und Rechtlosigkeit stößt. (...) Die Parteimachthaber sind um der Erhaltung ihrer Privilegien willen zu allem fähig, darunter auch zur Anwendung von Waffen gegen friedliche Arbeiter. Soldaten! Liebe Jungs! In diesen schweren Stunden wenden wir uns mit der Bitte um moralische Unterstützung an Euch. Laßt Euch nichts vormachen — die auf den Straßen und Plätzen werden Eure Brüder und Schwestern sein.“

Die Streikenden fordern seit Dienstag auch die Verstaatlichung des Parteivermögens der Kommunistischen Partei sowie die Abschaffung aller Privilegien der Staats- und Parteifunktionäre. Nach Mitteilung von Streikführern sind auch Arbeiter in den Städten Soligorsk, Orscha, Brest, Witebsk, Borissow und Rijetschiza dem Streikaufruf gefolgt.

Unterdessen wollten am Dienstag drei Zechen im sibirischen Kusbass, die seit dem 1.März im Ausstand sind, ihre Arbeit wiederaufnehmen, nachdem sich die Bergleute unter die „Rechtshoheit“ der russischen Föderation gestellt hatten. Wie die Nachrichtenagentur 'Tass‘ berichtete, versprechen sich die Arbeiter der Gruben Lenin, Abaschewski und Schewjakowa von der russischen Schirmherrschaft eine „wirtschaftliche Unabhängigkeit“. Die russische Regierung habe ihnen einen zinslosen Kredit bewilligt, mit dem die durch die Streiks verursachten Einbußen ausgeglichen werden können. Nach ‘Tass‘-Angaben sind im Kusbass derzeit noch 46 von 70 Kohlegruben sowie 25 Abbaustätten über Tage im Ausstand. Die Kumpel sollen in Kürze zusammentreffen, um zu entscheiden, ob auch sie den Streik beenden. Seit dem Beginn des Ausstandes vom 1. März in dem Kohlebecken blieben fast vier Millionen Tonnen Kohle ungefördert.

Unterdessen wächst im Parteiapparat der Druck auf Gorbatschow. „Der Parteipapparat brennt vor Verlangen nach Rache an Gorbatschow, nachdem er in den ersten Jahren der Perestroika gescheitert ist,“ erklärte das ZK-Mitlgied Karpytschew. Die ersten Parteisekretäre hätten schon damit begonnen, „das Bild des Generalsekretärs von der Wand zu nehmen“. Gorbatschow soll heute einen Tätigkeitsbericht vor dem Plenum des ZK abgeben. Die konservative Sojus-Fraktion forderte die Verhängung des Ausnahmezustands.