Für die Grünen geht es um alles oder nichts

Der Parteitag zieht sich zur Selbstreform nach Neumünster zurück/ Alle Strömungen beschwören das Überleben der Partei/ Strukturreform als zentraler Programmpunkt/ Durchmarsch der Realos und Aufbruch-Gruppe erwartet  ■ Aus Bonn Ferdos Forudastan

Über sechs Stunden braucht, wer von Bonn nach Neumünster fährt. Für einen aus Freiburg dauert es fast einen ganzen Tag bis er die 90.000 Einwohner zählende Stadt im Norden Deutschlands erreicht. Wer in München den Zug besteigt, muß sich noch mehr Zeit nehmen. Man glaubt Anne Nilges, Pressesprecherin der Grünen, daß Neumünster als Ort des nächsten Parteitages am kommenden Wochenende „einfach aus typisch grüner Schlurigkeit“ erwählt wurde. Dennoch, daß die Grünen in einer schwer erreichbaren Kleinstadt, südlich von Kiel, über ihre Zukunft entscheiden müssen hat Symbolwert. Es scheint, als sollte es ein Parteitag für wenige sein, für jene, die seit Jahren die grüne Politik, auch die grüne Strömungspolitik bestimmen.

Von den anderen, den gewöhnlichen Grünen, bleiben nicht wenige weg. Besonders aus Baden-Württemberg und Bayern kämen Absagen. „Zu weit, zu umständlich“, würden die Mitglieder erklären und anfügen, „wofür das alles?“ Wofür das alles — auf diese Frage antworten die Grünen MatadorInnen aller Lager ähnlich. „Den Niedergang der Partei als Bundespartei“ aufzuhalten, gilt es etwa nach Ansicht von Ludger Volmer. In Neumünster will sich der Vertreter des „Linken Forums“ zu einem der drei neuen Vorsitzenden wählen lassen.

Für Hubert Kleinert, sogenannter „Realissimo“ aus Hessen und auch Kandidat für die Parteispitze, geht es am Wochende um „alles oder nichts“. Antje Vollmer, Gründungsmitglied der inzwischen mit den Realos zusammenarbeitenden „Aufbruch“-Gruppe und ebenfalls Anwärterin auf einen der SprecherInnen-Posten hält die Bundesversammlung „für unsere letzte wirkliche Chance“. Und die Radikalökologin Jutta Ditfurth macht von den kommenden Tagen abhängig, ob sie in der Partei bleibt.

„Rettet die Grünen“, dieses Motto haben die grünen StrategInnen auch schon früheren Parteitagen gegeben — und jeweils etwas ganz anderes darunter verstanden. Heute dagegen sind sich die meisten darüber einig, wie die Partei zu retten ist — selbst dann, wenn sie es bestreiten. Fünf Monate nach dem Debakel der Bundestagswahl geht es fast allen StrömungsmatadorInnen an diesem Wochenende darum, die Grünen in den Stand einer „ganz normalen Partei“, so Realo Joschka Fischer, zu erheben. Eine Hürde vor allem, gilt es hierfür zu überwinden: die Struktur der Partei. Noch verbietet sie Abgeordneten, in Vorständen der Partei zu sitzen. Während viele grüne Landesverbände sich von der Rotation getrennt haben, ist sie in der Bundessatzung immer noch verankert. Über den Bundeshauptausschuß — formal das höchste Gremium zwischen den Parteitagen — und die sogenannten Bundesarbeitsgemeinschaften — zahlreiche inhaltliche Arbeitsgruppen der Partei — haben auch mittlere Funktionäre und Basis-Grüne noch immer recht viel Einfluß auf die Partei.

Geht es nach dem Willen der Realos und der Aufbrüchler, müssen diese heiligen Kühe geschlachtet werden. „Unsere bisherige Struktur ist geprägt von Unverbindlichkeit, von der Herrschaft derer, die Zeit haben, über Berufstätige mit Kindern. Sie ist getragen vom Geist der Kontrolle statt dem der Unterstützung und Vernetzung. Wenn wir nicht in der Lage sind, unsere eigenen Strukturtabus genauso infrage zu stellen wie die gesellschaftlichen, dann zerstören wir mit der Zeit unsere Partei.“ So begründet es Michael Vesper. Der Realo und parlamentarische Geschäftsführer der Grünen Fraktion im nordhrein-westfälischen Landtag hat „Vorschläge zur Strukturdiskussion“ erarbeitet — über die in Neumünster freilich nicht nur diskutiert werden soll. Vesper und seine Gleichgesinnten machen Wohl und Wehe des Parteitages wie der Partei davon abhängig, daß die Delegierten zumindest Kernforderungen des Antrages mehrheitlich verabschieden und so die Satzung geändert werden kann.

Daß sich ihre Erwartungen erfüllen, ist recht wahrscheinlich. Denn auch weite Teile der gemäßigten Linken wollen mit ehernen formalen Prinzipien der Grünen brechen. Zum Beispiel Ludger Volmer. Er fordert, die grüne Organisation „absolut gründlich zu reformieren, nachdem unsere Vorstellungen von Basisdemokratie der Wirklichkeit oft nicht standhalten konnten“. Nur noch wenige Delegierte werden am Wochenende gegen eine Abkehr von der herrschenden Struktur so argumentieren, wie Jutta Ditfurth und ihre geschrumpfte Anhängerschaft in ihrem Leitantrag für die Bundesversammlung. „Gegen autoritäre und zentralistische Strukturen setzen wir die Erneuerung und Ausweitung einer emanzipatorischen und basisdemokratischen Kultur.“ Ohne diese sei nämlich „eine emanzipatorische, radikalökologische, antimilitaristische, internationalistische, soziale Politik nicht möglich“.

Sollen Amt und Mandat gar nicht mehr getrennt werden? Oder nur noch selten? Oder doch noch meistens? Oder weiterhin völlig? Daß die in Neumünster Versammelten solcherlei Fragen nicht auf den Grund gehen werden, steht schon jetzt fest. Nur sechs Stunden nämlich gewährt das vollgepfropfte Parteitagsprogramm der Debatte über eine Strukturreform. Noch knapper kommt in der Planung fürs Wochenende ein Tagesordnungspunkt weg, dem eigentlich ein Sonderparteitag gebührt hätte, der sogenannten „politische Debatte“. Eingeplant lediglich für die Abendstunden des Freitags, gerät die überfällige grüne Grundsatzdiskussion nun zum Apercu. Und dies bezeichnet den Zustand, in dem sich die Grünen seit dem Schock vom 2.Dezember befinden. Heißt „Ökologisierung der Gesellschaft“ heute noch dasselbe wie Anfang der siebziger Jahre, als sich die Grünen zu eben diesem Zweck gründeten? Wie hält es die Partei inzwischen mit dem Zusammenhang von Umwelt und Eigentumsformen? Und wie steht man nach den Erfahrungen mit der eigenen Struktur zu den verschiedenen Formen von gesellschaftlicher Demokratie allgemein?

Solche Fragen wird die Bundesversammlung kaum stellen. Nicht angesagt ist nämlich eine Kraft und Zeit raubende Debatte über mögliche tiefere Ursachen der Krise und was es daraus für die Inhalte und Ziele grüner Politik zu folgern gilt. Über Inhalte und Ziele wird der Parteitag nur im Verborgen streiten: In den Gefechten um den künftigen Bundesvorstand, in den Kämpfen für oder gegen die KandidatInnen der verschiedenen Strömungen.

Renate Damus, Antje Vollmer, Petra Kelly, Vera Wollenberger, Christine Weiske, Ludger Volmer, Hubert Kleinert, Helmut Lippelt, Klaus-Dieter Feige, dreimal soviele Grüne wie hierfür gewählt werden können, haben bisher offiziell bekundet, daß sie der Partei vorsitzen wollen. Nach dem ersten Blick auf ihre Grundsatzpapiere und Bewerbungsschreiben scheinen gerade jene VertreterInnen der unterschiedlichen Strömungen, die als aussichtsreich gehandelt werden, nah beieinander zu liegen.

So wirbt etwa Antje Vollmer für das „Konzept einer ökologischen Bürgerrechtspartei“. Ludger Volmer will in einer „Partei des ökologischen Humanismus“ wertkonservative und linke Strömungen verbinden. Hubert Kleinert hat vor, das „ökologisch-radikaldemokratische Profil der Grünen“ zu schärfen. Und — anders als früher — offenbaren die StrömungsvertreterInnen erst auf Nachfrage, wie fundamental sich ihre Modelle von Politik und Partei unterscheiden. So bekunden die gemäßigten Parteilinken deutliches Mißtrauen gegen das Vorhaben Antje Vollmers, die Grünen nicht mehr links von der SPD, sondern quer zum Rechts-Links-Schema zu verorten und hierfür auch konservative WählerInnen zu gewinnen. „Möglicherweise nichts als eine große Partei der intellektuellen Claqueure“, so Ludger Volmer. Daß die Einigkeit nicht echt ist, zeigt freilich auch ein Blick auf das Vorfeld von Neumünster. Es war Schauplatz typischer grün-grüner Strömungskämpfe.

Zum Beispiel vor ein paar Monaten. Da verbreitete die Realo-Aufbruch-Gruppe das Konzept für eine Reform der Parteistruktur als ihr Konzept. „Dabei“, sagt Helmut Lippelt, „hätte es als strömungsübergreifendes Papier doch viel mehr Chancen gehabt.“ Zum Beispiel vor ein paar Wochen. Da gab Antje Vollmer der 'Süddeutschen Zeitung‘ ein Interview, das gemäßigt linke Grüne als Aufforderung verstanden, sich zurückzuziehen. Zum Beispiel vor ein paar Tagen. Da präsentierten sich Antje Vollmer, Hubert Kleinert und die Ost-Grüne Vera Wollenberger gemeinsam öffentlich als die faktisch einzig mögliche Parteispitze, mit der die Grünen aus der Krise zu lenken seien. Und auch das linke Forum verbreitet nicht den Eindruck, es könne sich vorstellen, mit ProtagonistInnen des Aufbruchs zusammen gedeihlich die Partei zu führen. „Ich sehe nicht, daß Antje wirklich von dem Versuch abgelassen hat, die Partei zu spalten.“ So ist etwa von Ludger Volmer zu hören. Konflikte bahnen sich, über die alten west-grünen Linien hinweg, außerdem mit den Ost-Grünen an.

Trotz alledem, verglichen mit früheren, vor Bundesversammlungen inszenierten unbarmherzigen grün- grünen Grabenkämpfen, nehmen sich die Strömungsstreitereien diesmal als recht harmlose Scharmützel aus. Anders als sonst stehen sich an diesem Wochende keine vergleichbar starken KontrahentInnen gegenüber. Und das hat die StrömungspolitikerInnen dieses Mal auf die liebgewordene Tradition verzichten lassen, gerade im Vorfeld eines Parteitages die Klingen besonders laut zu wetzen. Realos und Aufbruch sind sich ihres Sieges in Neumünster gewiß.

Und in der Tat ist der nicht unwahrscheinlich. Auf allen Landesversammlungen der vergangenen Monate ist es ihnen gelungen, sich mit ihrer Strukturreform durchzusetzen. Überdies haben viele Linke seit der letzten Bundesversammlung die Partei verlassen — und haben damit weiteres Geröll aus dem Weg geräumt, auf dem Realos und Aufbruch an diesem Wochenende durchmaschieren könnten.