Neu im Cinema: "Der kleine Gangster" von Jacques Doillon

■ Choreographierte Logorrhoe

drei Menschen

im auto

Nimm' einen fünfzehnjährigen Laiendarsteller mit mürrischem Gesicht, setz' ihn mitsamt Pistole und einem als Geisel genommenen Polizisten in ein Auto, pflanze noch eine schöne Schwester auf die Rückbank, laß' diese drei Personen road-moven durch die französische Provinz und endlos reden — dann sind dir — vorausgesetzt, du heißt Jacques Doillon — die hohepriesterlichen Hymnen von Filmkritikern sicher. Denn Jacques Doillon gilt als ein Regisseur, der mit seinen Filmen in Dreieckskonstellationen „nach der Wahrheit von Gefühlen sucht“.

Auf engstem Raum — im Auto eben - wird auch in diesem Film über Gefühle, Befindlichkeiten

und Absichten geredet. Der „kleine Gangster“ gibt sich in jähem Wechsel ängstlich, draufgängerisch, verletzlich, fuchtelt mit der Pistole, legt dem „Bullen“ Handschellen an und schließt sie wieder auf. Der „Bulle“ möchte den Jungen vor Kriminalität bewahren und übergibt ihn am Ende trotzdem dem Kommissariat. Und Schwester Nathalie ist ebenso unberechenbar: mal voll Verständnis für den Bruder, dann wieder für den „Bullen“. Choreographie der Gefühle, die im Dreieck springen, in einer undramatischen Geschichte, die weder Sozialreport sein will, noch mit dem Desperado-Mythos kokettiert. Dafür aber quillt die Tonspur über: „Ich lege dir jetzt Handschellen an, hörst du?“, erläutert der „kleine Gangster“ seine Absicht. „Die leg ich dir jetzt an. Gib mir den Schlüssel, los!“ „Nein“, sagt der „Bulle“, „laß' das. Mach' keinen Unsinn.“ „Er tut's“, erläutert Nathalie. „Ich tu's, okay? Gib her, okay? „ Und gottergeben läßt sich der „Bulle“ ans Lenkrad fesseln: „Scheiße, mir stinkt das, mit Handschellen Auto zu fahren.“

Ein tierisch-erhabener Ernst steckt in dieser unablässigen Geschwätzigkeit, mit der Situationen, Gefühle und Beziehungen zerquasselt werden. Worte müssen sich in den Filmen von Doillon behaupten gegen die Gesichter, die ihm, wie er selbst sagt, ebenso wichtig wie seine Dialoge sind. Nur kann sich im Sturzbach solcher Logorrhoe die ausdrucksvollste Miene, das schönste Bild nicht mehr behaupten. Die Augen können sich nicht freuen an einer so schönen, stummen Szene wie jener, in der die Schwester wie befreit im Meer schwimmt — sie wird ja gleich wieder vor ihrem Bruder und dem „Bullen“ stehen, um das zu sagen, was man längst ahnen konnte: „Habt ihr euer Problem gelöst? Ich habe euch allein gelassen, damit ihr euer Problem lösen könnt.“ Nein, sie haben das Problem trotz vielen Schwatzens nicht gelöst, doch Jacques Doillon hat den Anhängern des sich selbst kommentierenden Beziehungs-Kinos wieder mal einen Film geschenkt. Sybille Simon-Zülch

Cinema, 20.45