Das Wunderkind

■ „Yehudi Menuhin — eine Familiengeschichte“, ARD, um 23 Uhr

Ein spätes Geständnis. Yehudi Menuhin besucht seine Mutter und erzählt ihr, wie er als kleiner Junge heimlich die Comics in der Sonntagszeitung gelesen hat und dieses kleine Geheimnis bis heute für sich behalten konnte. Jetzt kann der Geigenvirtuose es erzählen und darüber lachen. Doch die Reaktion seiner Mutter, ihr verkrampftes, wenngleich höfliches Lächeln spricht Bände über eine strenge Erziehung, das das Genie von allem abschirmte, was des Musikers Karriere hätte schaden können.

Yehudi Menuhin verbrachte seine Jugend in einem goldenen Käfig, alleingelassen mit einer Stradivari und seinem Talent. Die abgeschottete Jugend hat aus ihm einen begnadeten Geiger gemacht, aber auch einen weltfremden, fast naiven Menschen hervorgebracht, der nichts weiter kennt als sein Instrument.

Der englische Regisseur Tony Palmer interessiert sich für das familiäre Umfeld dieser Entwicklung. Zum 75. Geburtstag von Sir Yehudi Menuhin ist so ein spannendes Porträt entstanden, das sich voller Neugier auf die Spuren eines Lebens jenseits der Legende begibt, die man wahrzunehmen gewohnt ist. Auffallend daran ist zuerst, wie ausweichend Menuhin auf Fragen nach den kleinen und großen Katastrophen der Familiengeschichte antwortet. Die Aura des Genius — sie ist umgeben mit schmerzlichem Verzicht, nicht nur auf die Comics der Sonntagszeitung. Doch Tony Palmer strebt nicht danach, etwa ein moralisierendes Sittengemälde der Familie Menuhin zu entwerfen. Voller Verständnis, jedoch mit einer angemessenen Portion Ironie verfolgt Palmer das Nichterwachsenwerden des Künstlers, eine stille Beobachtung, die den Beteiligten Raum läßt für eigene Versuche der Erklärung. Dabei treten Eitelkeiten, Kränkungen und Schrullen zutage, die nichts von der Integrität des Musikers nehmen, aber ein allzu geschöntes Bild zu korrigieren vermögen.

Der in New York geborene Menuhin ist das Paradebeispiel für ein Wunderkind. Er hat nie ein Konservatorium besuchen müssen, niemals in einem Orchester als ein Geiger unter vielen gespielt. Daß jetzt, zum Lebensende hin, jemand auch nach den Folgen fragt, mit denen der frühe Ruhm erkauft wurde, hat den Meister anhaltend irritiert. Nach Palmers Interviews hat der Geiger erst einmal den Familienrat zusammengerufen, um ihm sein Unwohlsein mitzuteilen — in der Hoffnung, seine Söhne könnten den Autor bitten, den Film zurückzuziehen. Doch Menuhins Kinder reagierten unerwartet. Zum ersten Mal, so erklärten sie dem erstaunten Vater, „werden wir richtig dargestellt“. Christof Boy