Rußlands Arbeiter nehmen Pawlows Herausforderung an

■ An den für den 26. April geplanten Warnstreiks gegen Preiserhöhungen und Streikverbot wollen sich auch gemäßigte Gewerkschaften beteiligen

Ministerpräsident Pawlow mit seinem Paket von „Dringlichkeitsmaßnahmen“ und die rechtskonservative Deputiertengruppe „Sojus“ haben in der vorigen Woche die Karte des Ausnahmezustandes auf den Tisch der Sowjetbürger gelegt. Doch auch wenn diese Karte keineswegs von Pappe ist, eines steht fest: es wird von Tag zu Tag scherer fallen, sie als „Bittpetition“ der Werktätigen um ein „Durchgreifen von oben“ zu kaschieren.

Die Forderung nach einer Umgestaltung des politischen Systems dominiert nicht nur in den Streikforderungen der 278 Unternehmen, die sich zur Zeit im ganzen Lande im Ausstand befinden. Auch die Studenten in Kiew und Minsk streiken mit entsprechenden Losungen. In Moskau hat die Bewegung „Demokratisches Rußland“ auf die Herausforderung von Ministerpräsident Pawlow hin dazu aufgerufen, sich zum Generalstreik zu rüsten. Und an dem für den 26. April geplanten einstündigen Warnstreik gegen Preiserhöhungen und die von der Regierung geplanten „Krisenverordnungen“, insbesondere gegen das darin vorgesehene Streikverbot, wollen sich auch gemäßigte Gewerkschaften beteiligen, die die Forderung der Bergleute nach dem Rücktritt der Regierung mitsamt Gorbatschow nicht unterschreiben wollen.

Gewerkschaften distanzieren sich von Rücktrittsforderung

Jetzt wird schon darüber diskutiert, ob man am 1. Mai, statt zu demonstrieren, nicht lieber streiken sollte — für einen offiziellen Feiertag ein nicht ganz einfach zu realisierendes Vorhaben. In Minsk wurde am 23. April der am 12. zwecks Verhandlungen mit der belorussischen Regierung ausgesetzte politische Streik von 42 Unternehmen auf unbestimmte Zeit wieder aufgenommen. An einem fünfstündigen Meeting, das um 10 Uhr vormittags begann, beteiligten sich etwa 50.000 Bürger der Stadt. Ermuntert wurden sie von Abgesandten der polnischen Gewerkschaft „Solidarność“ aus Gdansk und Lodz. Im Mittelpunkt der Redebeiträge auf der Versammlung stand die Forderung nach einer außerordentlichen Sitzung des belorussischen Obersten Sowjet. Auf dieser sollte der Meinung des Streikkomitees zufolge ein neues Wahlgesetz verabschiedet werden, außerdem die Auflösung der Parteizellen der KPdSU in allen Produktionsunternehmungen und Institutionen. Die Föderation unabhängiger Gewerkschaften Rußlands, FNPR, ist bereit, parallel weitere Streikaktionen im Lande zu unterstützen. Sie distanziert sich aber von der Forderung eines Teils der Bewegung „Demokratisches Rußland“ nach einem Rücktritt des Präsidenten. Der Chef der Gewerkschaft Kljotschkow war noch bis vor kurzem stellvertretender Vorsitzender des offiziellen, regierungstreuen Gewerkschaftsbundes „Wsjesojusnaja Konfederazija Profsojusow“ (WKP). Viele Moskauer halten, nicht nur deshalb, seine Organisation für ein Auffangbassin, zu dem sich die WKP ein Hintertürchen für den Fall offenhält, daß der Volkszorn die offiziellen Gewerkschaften vollends hinwegfegt. Vorsorglich fordert Kljotschkow eine „Regierung des Volksvertrauens“ und die völlige Souveränität Rußlands.

Viele russische Bergarbeiter- Streikkomitees fordern über den Rücktritt des UdSSR-Präsidenten hinaus, daß sie der russischen statt der sowjetischen Jurisdiktion unterstellt werden. Die russische Regierung bietet den Gruben an, daß sie, statt wie bisher fünf bis sieben Prozent, in Zukunft den Löwenanteil ihrer Produktion in eigener Regie verkaufen dürfen.

Entstehung einer „dritten Kraft“

Der genaue Wortlaut der entsprechenden Gesetze wird noch ausgehandelt. Ein russischer Regierungsbeauftragter erblickt in dieser Übereinkunft die Hauptgarantie dafür, daß die Kumpels angesichts der harten sozialen Kosten, die der Übergang zur Marktwirtschaft für Rußland bringen wird, die Verantwortung für den Lebensstandard aller Bevölkerungsschichten mittragen. Er sieht die wichtigste politische Funktion der Streikbewegung darin, „daß in der Sowjetunion außer den „Rechten“ und den „linken“ Demokraten jetzt eine politische „dritte Kraft“ entstanden ist, deren Aktivitäten noch nicht schematisch festgefahren sind.

Der RSFSR-Regierungsbeauftragte bezeichnete speziell die Streikbewegung der Bergleute als „konstruktiv und schöpferisch“. Er wies darauf hin, daß es der russischen Regierung im Zuge der Verhandlungen gelungen sei, die Kumpels zur direkten Kontaktaufnahme mit den russischen Unternehmen der metallurgischen Industrie zu bewegen und diese zu beliefern — und freute sich: „Wir haben es gemeinsam erreicht, daß aus dem Streik schon heute neue wirtschaftliche Bindungen erwachsen.“