Konservative gehen zum Angriff über

■ Heftige Kritik an seiner Rolle als Parteichef erwartete Michail Gorbatschow auf der Moskauer ZK-Sitzung, die gestern nachmittag begann. Der Erfolg eines eventuellen Antrags der konservativen...

Konservative gehen zum Angriff über Heftige Kritik an seiner Rolle als Parteichef erwartete Michail Gorbatschow auf der Moskauer ZK-Sitzung, die gestern nachmittag begann. Der Erfolg eines eventuellen Antrags der konservativen Kommunisten, den Generalsekretär abzuwählen, ist jedoch eher unwahrscheinlich.

AUS MOSKAU BARBARA KERNECK

Je mehr der „Sozialismus“ der sogenannten „real existierenden“ Ausprägung verschwindet, desto größer, so scheint es, wird in der Sowjetunion die Zahl seiner Anhänger. Noch vor anderthalb Jahren galt es als Binsenweisheit, daß es „heutzutage schwer ist, ein Kommunist zu sein“, und sogar Parteimitglieder, die zu Stalins oder Breschnews Zeiten entweder zu jung waren, um den herrschenden politischen Kurs zu verfechten, oder irgendwelche Nischen gefunden hatten, litten unter der derben Kritik. Heutzutage haben die konservativsten Teile der Partei ihre eigentümliche „Perestroika“ der eigenen Reihen erfolgreich vollendet und gehen zum Angriff über. Die „neue Rechte“ formierte sich angesichts einer tiefen Krise der liberalen Ideale zu einer Zeit, in der der alte Staatsaufbau praktisch schon zerstört war, der zivilisatorische Standard des Landes sich der Dritten Welt angenähert hatte und das Land sich weltweit im Fahrwasser der USA und der Bundesrepublik bewegte.

Im Februar dieses Jahres veröffentlichte die „Unionsweite Vereinigung der Deputierten aller Ebenen“ Sojus eine Erklärung der „gesellschaftlich-politischen Organisationen und Bewegungen der sozialistischen Entscheidung“. Darin wird verkündet, man habe eine ständige Arbeitskonferenz gegründet, um „alle patriotischen und internationalistischen Kräfte des Landes zu konsolidieren“. Diese Erklärung unterschrieben etwa 30 gesellschaftliche Organisationen, die in der sowjetischen Öffentlichkeit gewöhnlich als „rechts“ bezeichnet werden; viele von ihnen sind noch kein Jahr alt. Außer „Sojus“ gehören dazu die Kommunistische Partei der Russischen Föderativen Sowjetrepublik, die „Internationalistische Bewegung der UdSSR“, die „Vereinigte Front der Werktätigen“, die „Marxistische Plattform in der KPdSU“, die Gesellschaft für russische Kultur „Vaterland“, daneben Blüten wie die „Bewegung Frauen für eine kommunistische Zukunft unserer Kinder“, die Jugendorganisation „Kommunistische Initiative“ und — last but not least — die Urmutter aller dieser Vereinigungen, gegründet von der Leningrader Professorin und historisch ersten Gorbatschow-Kritikerin von rechts, Nina Andrejewa: die Allunionsgesellschaft „Jedinstwo“ (Einheit) für den Leninismus und die kommunistischen Ideale.

Das in der Erklärung charakterisierte gemeinsame Minimalprogramm dieser Gruppen fordert vor allem die Erhaltung der Sowjetunion als föderativen Staat — vor allem mit einer einheitlichen, zentral kommandierten Armee. Zweitens ist von der „Bekräftigung der sozialistischen Entscheidung des multinationalen Sowjetvolkes“ die Rede, wobei also der „Nationen“ viele sind, das „Volk“ aber nur eines. Danach kommen die gleichen Rechte der Sowjetbürger auf dem gesamten Territorium, ohne Ansehen von Sprache und Nationalität — ein Punkt, der sich gegen die Proklamierung einer besonderen Staatsbürgerschaft, wie bisher in den baltischen Republiken und in Georgien, richtet.

Daß die Sowjetunion in die Rachen der imperialistischen Haie treibt, ist eine Befürchtung, der auch auf den letzten beiden großen Tagungen rechter Organisationen in diesem Monat vielfältig Ausdruck verliehen wurde: Am letzten Wochenende, nicht zufällig so kurz vor dem ZK-Plenum der KPdSU, tagten in Leningrad der „Initiativkongreß der Kommunisten Rußlands“, in Moskau die „Unionsweite Vereinigung der Deputierten aller Ebenen“ Sojus; an beiden Veranstaltungen nahmen jeweils über siebenhundert Stimmberechtigte teil. Der „Initiativkongreß der Kommunisten Rußlands“ geht auf den Initiativkongreß zur Gründung einer Kommunistischen Partei Rußlands im vorigen Sommer zurück. Die KP der Russischen Föderation, die kurz danach auch tatsächlich gegründet wurde, ist mit dieser Versammlung nicht identisch, verdankt ihr aber ihre Entstehung.

„Gorbatschows Schuld ist unbestreitbar gewaltig“

Bestandteil der in Leningrad tagenden Formation war hingegen die „Jedinstwo“ der Nina Andrejewa. Daß die ideologisch gefestigte Professorin nicht einmal in den Vorstand des Initiativkongresses gewählt wurde, weist allerdings darauf hin, daß der Kongreß insgesamt die gemeinsamen Ideale weniger radikal verficht als die „Jedinstwo“. Wichtige Unterschiede gab es auch in der Diskussion über einen Rücktritt Gorbatschows als Generalsekretär auf dem heutigen ZK-Plenum — eine Forderung, die auf beiden Foren häufig gestellt und stets mit freundlichem Applaus begrüßt wurde. Die „Jedinstwo“ möchte den Präsidenten der UdSSR darüber hinaus aus der KPdSU ausschließen und sein Abgeordnetenmandat im Obersten Sowjet annullieren. Auf die Frage, warum man denn gleich mit derartiger Härte gegen Gorbatschow vorgehen müsse, antwortete Nina Andrejewas Berater, Alexander Lapin, im Februar: „Die Gorbatschowsche Gruppe in der Führung der KPdSU hat gewissenhaft den sozialen Auftrag der Gegner des Oktober und des Bolschewismus ausgeführt. (...) Die Schuld von Gorbatschow und Co. besteht (...) in der Demontage von Basis und Überbau des Sozialismus, im Ruin des multinationalen Staates, des sozialistischen Weltsystems und der kommunistischen Bewegung, in der Entartung der KPdSU in eine sozialdemokratische, menschewistische Partei mit trotzkistisch-bucharinscher politischer Orientierung. Diese Schuld ist gewaltig, unbestreitbar und unverzeihlich.“

Trotz dieses stolzen Registers konnte sich der „Initiativkongreß“ insgesamt nicht dazu entschließen, den Rücktritt Gorbatschows als Generalsekretär direkt zu fordern; man sprach ihm lediglich das Mißtrauen aus. Der Wirtschaftsprofessor Alexej Sergejew, Befürworter der zentralen Planung, begründete dies wie folgt: „Es gibt zwei Möglichkeiten, sich zu Gorbatschow negativ zu verhalten. Die eine besteht darin, sich auf ihn als Führer einzuschießen, die andere verlagert das Schwergewicht auf die Kritik an seinem Kurs. Ich könnte mir eine Situation vorstellen, in der das ZK-Plenum Gorbatschow aus seinem Amt entläßt, während er schon längst einen Nachfolger eingeschmuggelt hat, der dann dieselbe Linie verfolgen wird. (...) Wenn sich aber der Kurs der Partei verändert, muß der Führer aufstehen und sagen, ob er sich in der Lage fühlt, diesen neuen Kurs durchzusetzen. Und dann wird sich die Frage nach dem Führer von alleine lösen.“

Neue Verbeugungen vor „Sojus“-Positionen

Ganz ähnlich äußerte sich einer der beiden „schwarzen Obersten“ an der „Sojus“-Spitze, Wiktor Alksnis — allerdings im Hinblick auf eine Abwahl Gorbatschows als Präsident der UdSSR. „Sojus“ forderte den Präsidenten in einer Schlußresolution auf, den Ausnahmezustand über das ganze Land zu verhängen und einen Rechenschaftsbericht vor einem außerordentlichen Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR abzulegen. Beobachter bezweifeln, ob die Einberufung eines solchen außerordentlichen Kongresses zustande kommt, da von den 500 „Sojus“-Deputierten dieser verfassunggebenden Versammlung nur 164 auf der Moskauer Tagung anwesend waren und die Motive der übrigen nicht bekannt sind.

Trotzdem mehren sich weiterhin die Anzeichen für neue Verbeugungen der Regierung Pawlow/Gorbatschow vor „Sojus“-Positionen. Recht unbemerkt hat zum Beispiel Ministerpräsident Pawlow in sein kürzlich vorgestelltes Krisenprogramm praktisch das Recht für lokale Machtorgane aufgenommen, sich in Aktiengesellschaften umzuwandeln. Manager aus Politik und Wirtschaft, die bei der bevorstehenden Teilung des Staatseigentums in der UdSSR zu kurz zu kommen fürchten, stellen aber die Hauptklientel von „Sojus“. Wenn man einmal von der beiden Organisationen gemeinsamen Anhängerschaft aus der Armee absieht, wendet sich der „Initiativkongreß“ an schlichtere Kreise: Die Leningrader Versammlung sandte ein Solidaritätstelegramm an die streikenden Bergarbeiter, forderte „Alle Macht den Sowjets“ und eine Arbeiterkontrolle über gesellschaftliche Organisationen. Zeichnet sich also ein Schulterschluß der Rechten mit den Demokraten ab? Die „wahren“ Kommunisten sind nicht so pingelig mit der Demokratie. So hielte es Igor Maljarow, einer der Führer der in Leningrad vertretenen „Kommunistische Initiative“, schon für ein großes Glück, wenn seine Organisation ein Prozent aktiver Mitglieder des Jugendverbandes stellen könnte. Schließlich seien die Bolschewiki zu ihrer Zeit noch weniger gewesen. Auffällig, daß in Leningrad eine der häufigsten Losungen demokratischer Meetings fehlte: die Forderung nach einer „Regierung des Volksvertrauens“. Das läßt darauf schließen, daß die „Rechten“ ihre Möglichkeiten ganz nüchtern einschätzen.