Automatisch Strahlen-Alarm

■ Die Strahlenmeßstelle ist Berlins Radioaktivitätswächter/ Pilze und Wild immer noch belastet/ Verseuchtes Gelände in Oranienburg entdeckt

Charlottenburg. Der größte Unfall in der Geschichte der Atomwirtschaft hinterläßt auch nach fünf Jahren seine Spuren in Berlin und Umgebung. Bestimmte Pilze, Fische und wildlebende Tiere sind zum Teil immer noch 1.000mal höher belastet als vor der Katastrophe. Ein Kilo Maronen aus Rathenow oder Wittenberge strahlen mit bis zu 600 Becquerel (vor dem 26. April 1986 maximal 15 Becquerel), wildlebende Tiere mit bis zu 100 Becquerel pro Kilo (ein Stallrind hat etwa 0,1 Becquerel) und Flußfische mit bis zu 50 Becquerel (vorher 0,2 Becquerel). Lebensmittel haben inzwischen allerdings wieder fast die Werte von vor 1986 erreicht, erklärt Udo Morfeld, Leiter der Strahlenmeßstelle der Senatsumweltverwaltung. Die Einrichtung kontrolliert regelmäßig auch die Luft, das Trink- und das Oberflächenwasser. Sollten die Werte in der Luft steigen (hier ist Radioaktivität am frühesten feststellbar) werden drei Mitarbeiter automatisch gewarnt — auch zu Hause.

Die Meßstelle untersucht auch verdächtige Böden. Und vor einem Monat entdeckten Morfelds Mitarbeiter eine »Überraschung«. In der André Pican Straße in Oranienburg ist Erde mit bis zu 4.300 Becquerel pro Kilo verseucht. Wer sich auf bestimmte Flecken des brachliegenden Geländes ein Jahr lang hinstellen würde, würde eine Jahresdosis von 870 Milli-Sievert erhalten, so Morfeld. Mitarbeiter in Kernkraftwerken dürfen jährlich höchstens 50 Milli-Sievert ausgesetzt werden, auf angrenzenden Grundstücken dürfen AKWs die Ortsdosisleistung um maximal 0,3 Milli-Sievert erhöhen. Michael Lönnig vom Bundesamt für Strahlenschutz, zuständig für Brandenburg, glaubt dennoch, daß keine akute Gefahr besteht, weil es auf dem Gelände nur kleine Flächen mit natürlicher Radioaktivität gebe. Dennoch, so Lönnig, bestünde Handlungsbedarf. Das Gelände ist eingezäunt worden, möglicherweise wird es asphaltiert oder der Sand in Fäßer gepackt. Die Fläche ist eine Altlast aus dem Zweiten Weltkrieg. Die ehemaligen Auerwerke, die dort unter anderem Glühstrümpfe produzierten, waren zum Ziel von Bombenangriffen geworden. Noch heute sei Thorium-Oxid- und radiumhaltiger Stoff vorhanden, erklärt Lönnig, der für bestimmte Produkte nötig gewesen sei. Zur Zeit wird das Gelände genau untersucht.

Die Strahlenmeßstelle hat darüber hinaus noch andere Aufgaben. Ihre 20 Mitarbeiter werten sogenannte Dosimeter von 17.000 Arbeitern und Angestellten, die beruflich mit radioaktiven Stoffen zu tun haben, aus. Mitte der 50er Jahre war mit der Überwachung von Nuklearmedizinern, Ärzten und Forschern und später auch von Mitarbeitern in Kernkraftwerken begonnen worden. Die kleinen Scheiben, die unter anderem am Kittel getragen werden, werden monatlich gemessen, doch bei neun von zehn Dosimetern sei keine Radioaktivität nachzuweisen, erklärt Leiter Morfeld. Alle zwei Jahre käme es mal vor, daß bei einem der 17.000 Dosimeter der Grenzwert überschritten worden sei. Dann werde sofort der Betrieb und das Landesamt für Arbeitsschutz und technische Sicherheit benachrichtigt, sagt Morfeld. Von den 17.000 Personen die überwacht werden, kommen 4.000 aus dem Ostteil der Stadt. Dirk Wildt