KOMMENTARE
: Der Schlüssel zum Ausstieg

■ Fünf Jahre nach Tschernobyl legt die deutsche Atomwirtschaft ihr Schicksal in die Hand der SPD-Opposition — und niemand will es merken

Die Atomkraftgegner in der SPD hatten auf diesen Tag lange warten müssen. Nach fast einer Dekade erbitterter Auseinandersetzungen ging dann alles ganz glatt an jenem 27. August 1986. Helmut Schmidt konnte nicht mehr mit Rücktritt drohen und nur ein einsamer Delegierter stemmte sich in der Nürnberger Meistersingerhalle gegen den neuen Mainstream. Der Rest hob die Hand für den Ausstieg aus der Atomenergie binnen zehn Jahren. Doch der grandiose Sieg von Erhard Eppler und seinen Freunden war keinesfalls ein Produkt atomkritischer Überzeugungskraft. Er war vielmehr Resultat eines taktischen Rückzugs unter dem noch frischen Eindruck von Tschernobyl: Die SPD-Freunde des Atoms waren zutiefst davon überzeugt, daß sich die antinukleare Aufregung nach der Reaktorkatastrophe früher oder später wieder legen würde, auch unter den Genossen.

Dieser grandiose Irrtum bescherte der Anti- AKW-Bewegung den wichtigsten Durchbruch seit ihrem Bestehen. Zu ihrer Tragik gehört, daß sie das immer noch nicht bemerkt hat. Die taktischen AKW-Gegner in der SPD haben damals die zementierende Wirkung unterschätzt, die zwar weniger von der Katastrophe als von der verbalen Kehrtwende einer Volkspartei ausging. Seit Tschernobyl sind die Umfragen zur Atomenergie praktisch konstant geblieben. Fast vier von fünf Deutschen wollen diese Form der Energieerzeugung loswerden. Daß immer nur zwischen 10 und 20 Prozent den Sofortausstieg verlangen, liegt eher an einer pragmatischen Haltung, mit der ein Atompionier erst kürzlich in einer TV-Talkshow (zu Unrecht) die Lacher auf sich zog: „Wir brauchen die Kernenergie, weil wir sie haben.“

Aber wir haben schon viel weniger als vor der Katastrophe in der Ukraine. Der sogenannte Einstieg in die Plutoniumwirtschaft, die sozialdemokratische Formel für Brüter und Wiederaufarbeitung, ist in Deutschland praktisch ad acta gelegt. Das „nationale Entsorgungskonzept“ wurde mit der Flucht der Stromversorger aus Wackersdorf vor zwei Jahren begraben. Die neben dem Brüter zweite „fortgeschrittene Reaktorlinie“ — Prototyp war der inzwischen stillgelegte Hochtemperaturreaktor THTR-300 in Hamm-Uentrop — wird ganz offiziell nicht mehr weiterverfolgt. Und nicht zuletzt: Die Möglichkeit, die maroden DDR-Reaktoren sowjetischer Bauart als sicher zu verkaufen und weiterzubetreiben, haben die westlichen Stromkonzerne ernsthaft gar nicht erst erwogen.

Zu Ende gebaut wurden lediglich die Leichtwasserreaktoren, die seit Jahren ein gutes Drittel zur Stromversorgung der alten Bundesländer beitragen. Neue Bauanträge hat es seit dem großen Knall in der Ukraine hierzulande nicht gegeben.

Der Nürnberger Ausstiegsbeschluß der SPD wurde seinerzeit an Voraussetzungen geknüpft, die den AKW-Befürwortern unter den Genossen ihre verbale Zustimmung erheblich erleichterten. Damals ein in der Tat realitätsfernes und geradezu aberwitziges Ansinnen. Und heute, fünf Jahre später? Die Herren der Atomgemeinde sind genervt. Jahrelang haben sie sich nach Kräften gemüht, den nach Tschernobyl zerbrochenen atomaren Konsens via mediale Dauerberieselung der Bevölkerung zu reaktivieren. Sie kalkulierten mit dem Opportunismus der SPD: Wenn sich die Bevölkerung den Verheißungen der Kernspaltung wieder zuwende, tue dies nach einer Schamfrist auch die SPD. Diese Strategie ist schon im ersten Schritt an der bemerkenswert sturen atomkritischen Haltung der Bevölkerung gescheitert.

Jetzt versucht man den direkten Weg. Zuerst stieg der Veba-Chef Klaus Piltz, inzwischen fast täglich andere Herren aus den Chefetagen der Zunft in den Ring. Sie alle machen den Bau neuer Atomkraftwerke in Ost oder West unzweideutig von der Zustimmung der SPD abhängig. „Unser Ziel ist eine politisch verläßliche Erklärung“, sagt Piltz. Und: Wenn die Genossen nicht mitziehen, wird nicht investiert. Die Erklärung ist ernst gemeint. Die Stromwirtschaft verlangt von der Politik „Investitionssicherheit“ für ihre Milliardenprojekte. Sie hat Angst vor „Kalkarisierung“ in jedem Land, in dem eine CDU- von einer SPD-geführten Regierung abgelöst wird.

Die Entwicklung ist sensationell. Sie legt den Schlüssel für die künftige Energiepolitik in die Hand der parlamentarischen Opposition. Sie erfüllt, wenn auch auf unvorhersehbare Weise und zunächst nur verbal, eine zentrale Ausstiegs-Voraussetzung aus dem Nürnberger Parteitagsbeschluß. Und sie trifft auf eine SPD, in der in den vergangenen fünf Jahren aus manchem taktischen Atomkraftgegner ein überzeugter geworden ist. Natürlich kalkuliert die neue Strategie der Stromwirtschaft nicht den Ausstieg aus der Atomenergie, sie kalkuliert allenfalls den Ausstieg aus der Kohlesubvention und die Knebelung der Kohleländer. Wirtschaftsminister Möllemann beschwört auf vier „Spiegel“-Spalten die Große Energiekoalition mit der SPD und zieht den Genossen gleichzeitig unmißverständlich die Daumenschrauben an. Konkret: Halbierung der Kohleförderung nach Ablauf des Jahrhundertvertrags im Jahr 1995 und Abschaffung des Kohlepfennigs, ohne AKW's keine Kohle. Nicht zufällig hat Möllemann in der vergangenen Woche die Ministerpräsidenten Rau und Lafontaine aus den Kohleländern NRW und Saarland zum Plausch gebeten.

Mißtrauisch macht das geballte sozialdemokratische Schweigen zum Ansinnen der Stromer. Warum stellt sich niemand hin und sagt: „Wir nehmen das Angebot an. Neue Atomkraftwerke sind weder notwendig noch in Übereinstimmung zu bringen mit der Beschlußlage der SPD. Wenn die Stromversorger Investitionssicherheit haben wollen, sollen sie sie haben: Sie können ihre Milliarden loswerden für Windkraftwerke, Heizkraftwerke, Fernwärmenetze, Wärmedämmung. Dafür garantieren wir: keine Kalkarisierung“. Die Atomgemeinde hat hoch gepokert. Jetzt muß sie beim Wort genommen werden. Gerd Rosenkranz