Ärger in Indiens „City of Joy“

Mit seinem Vorhaben, in Kalkuttas Slums einen Film über den Überlebenswillen der Armen zu drehen, hat ein britischer Regisseur die gesamte Stadt gegen sich aufgebracht/ Pressekampagnen, parlamentarische Debatten und Demonstrationen  ■ Aus Neu Delhi Bernard Imhasly

Die „Stadt der Freude“ bringt dem britischen Filmregisseur Roland Joffe gegenwärtig nur Kummer. Zwei Jahre vergingen, bis er von den indischen Behörden die Bewilligung erhielt, den Bestseller City of Joy von Dominique Lapierre in Kalkutta, dem Schauplatz des Buches, zu verfilmen. Das Thema — der bewundernswerte Überlebenswille armer Slumbewohner — hatte in Delhi und in Kalkutta selber die vielleicht berechtigte Angst ausgelöst, mit der Darstellung des Elends könnte auch die Unfähigkeit des politischen Systems bloßgestellt werden, etwas dagegen zu unternehmen. Der Preis, den Joffe für die Dreherlaubnis zahlen mußte: Dreizehnmal mußte er das Drehbuch umschreiben, und beim vierzehnten Mal akzeptierte er sogar einen unbeteiligten Journalisten als Mitautor, genauso wie er seit Anfang die Anwesenheit von zwei Zensoren der Filmbehörde bei den Dreharbeiten hatte hinnehmen müssen.

All dies verfing jedoch wenig: Als Joffe und sein Produzent Iain Smith im Januar mit den Dreharbeiten in den Straßen Kalkuttas begannen, hagelte es in der Stadt der Freude nicht nur Gerichtsverfahren, feindliche Pressekampagnen und parlamentarische Debatten, sondern auch Ziegel, Nagelbomben, Demonstrationen und Brandstiftungen. Die Dreharbeiten mußten unterbrochen werden, und erst seit zwei Wochen wird nun wieder gefilmt, allerdings nicht auf realen Schauplätzen, sondern in Filmstudio-Slums, damit laut Gerichtsverbot die Arbeiten „die Verkehrssituation Kalkuttas nicht beeinträchtigen“ — eine merkwürdige Begründung angesichts der täglichen Verkehrszusammenbrüche in vielen Straßen der Stadt.

Mit seiner Verfilmung von City of Joy will Joffe Fragen nachgehen, die ihn bereits in seinen früheren Werken — Killing Fields und The Mission — beschäftigten: wie verhalten sich Menschen unter extremen äußeren Bedingungen? Wie überleben sie in einer existenzbedrohenden Umwelt? Kalkutta bietet dafür ein ideales Beobachtungsfeld: Die Stadt ist eine der ärmsten Drittweltmetropolen, mit einer zerbröckelnden Bausubstanz und riesigen Slums, mit lamentablen öffentlichen Dienstleistungen, mangelnder Verbrechensbekämpfung und einer korrupten Gerichtsbarkeit. Wie lebt ein Mensch, der vom Moment seiner Geburt an in dieser Stadt gestrandet ist, und dessen beherrschendes Lebensthema von diesem Moment an das tägliche Überleben ist? Aus dieser Fragestellung lassen sich eine Reihe von Thematiken individueller Verhaltensformen entwickeln — Korruption, Gier, Mitgefühl, Verbrechen, Liebe, Solidarität, Angst, Mut. Angeregt duch das Beispiel von Mutter Theresa, hatte Dominique Lapierre in seinem Buch einige der positiven Reaktionsweisen herausgestellt. Am Beispiel des Rikschafahrers Hazari Pal zeigt er, in leicht reißerischer Manier, die Fähigkeit zu Solidarität und Liebe in einer extrem lebensfeindlichen Umwelt.

Dies ist auch das Thema von Joffes Drehbuch, doch im Gegensatz zur Reaktion auf das Buch von Lapierre — der zum Ehrenbürger gewählt wurde — enthüllt das aggressive Verhalten der intellektuellen und politischen Klasse Kalkuttas auf die Verfilmung wohl selbst eine der Verhaltensformen, die der Alltag Kalkuttas provozieren kann: nicht Solidarität oder einen Willen zur Aufklärung diesmal, sondern den Zwang, diese schmerzliche Realität auszublenden. Das Vorzeigen des horrenden Spiegelbildes wird zur Gefährdung der eigenen Überlebensfähigkeit und muß daher zum Schweigen gebracht werden.

Im Fall der kommunistischen Regierung Westbengalens kommt hinzu, daß sie den Film als Schuldzuweisung verstand. Zwar konzentrierte sich die Kritik — der sich auch der Regisseur Satyajit Ray anschloß — auf die Gefahr, daß ein solcher Film die Armut für kommerzielle Zwecke ausbeuten könnte. Doch verrät die Orchestrierung der Kampagne durch Parteizeitung, Studentenbund, Gewerkschaften die Angst der Regierung, daß sich der zweifellos ernst und als Hommage verstandene Titel City of Joy in sein ironisches Gegenteil verkehren könnte.