Vom Helfersyndrom zum Mord

Susanne Albrecht versucht im Stammheimer Prozeßbunker ihren Weg in die RAF zu erklären  ■ Von Gerd Rosenkranz

Stammheim (taz) — Äußerlich war alles wie gehabt, als gestern im Stammheimer Prozeßbunker Susanne Becker, geborene Albrecht, dort Platz nahm, wo vor über eineinhalb Jahrzehnten Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe gesessen hatten. Die gleichen peniblen Sicherheitskontrollen, derselbe kalt-sterile Zwecksaal, steinerner Ausdruck einer paranoiden „Sicherheitskultur“. Der Ton allerdings hat sich geändert.

Blaß, leicht nach vorn gebeugt, aber mit geradem Rücken versucht Susanne Albrecht, dem Vorsitzenden Richter Breucker und seinen Beisitzern am Oberlandesgericht Stuttgart ihren Weg aus dem „großbürgerlich-konservativen“ Elternhaus in die Untergrundgruppe der RAF plausibel zu machen. Die zerbrechlich wirkende Frau will überzeugen, sucht in Erinnerungen, entschuldigt sich, wenn sie daran scheitert, ihr Denken von 1973 nachzuzeichnen.

Als 1973 in der Hamburger Eckhoffstraße „junge Leute“, wie Susanne Albrecht sagt (sie selbst war damals 22), ein Haus besetzten, war sie bei der Räumung dabei. Festnahme mit gefesselten Händen und dem Gesicht auf den Boden, erkennungsdienstliche Behandlung: Die erste Konfrontation mit der Staatsgewalt bestärkte in der Pädagogik- und Soziologie-Studentin das „Gefühl der Ohnmacht gegenüber den sozialen Verhältnissen“. Daß Leute so um billigen Wohnraum kämpfen mußten, empfand sie als „krassen Gegensatz zu meiner Lebenssituation“. Die war nach außen gekennzeichnet von Geigenunterricht, „Tennis, gesellschaftlich“, „anständigen Freunden“ und einer entsprechenden Erziehung „mit allem, was dazugehört“. Nach innen waren die Familienverhältnisse offenbar alles andere als harmonisch, jedenfalls so, daß sie auch heute nicht darüber sprechen wollte. Susanne „funktionierte“ nicht wie sie sollte, zog sich grübelnd in sich selbst zurück und wurde schließlich von den Eltern in ein Internat gesteckt.

Nach der Räumung schloß sich Susanne Albrecht einem Sympathisantenkomitee an, das sich später in ein von Anwälten, Schriftstellern und Journalisten getragenes Komitee gegen die Isolationshaft politischer Gefangener verwandelte. Über die Aktionen der RAF wurde dort zunächst nicht gesprochen. Sie habe deren Taten nicht mal gekannt, beharrt Susanne Albrecht auf den bohrenden Vorhalt des Vorsitzenden. Sie sei damals kein „politisch bewußter oder engagierter Mensch gewesen“.

Später wurde das anders. Die Liberalen verließen das „Anti-Folter- Komitee“, nachdem sich die Gruppe im Verlauf der Hungerstreiks immer bedingungsloser — Albrecht: “bis zur Hörigkeit“ — an den Vorgaben der Gefangenen ausrichtete. Am 9.November 1974 verhungerte in der JVA Wittlich der RAF-Gefangene Holger Meins, Fotos der Leiche erschienen in der Presse. Ein „Schlüsselerlebnis“, erinnert sich die Angeklagte: „Ich habe mir nicht vorstellen können, daß ein Mensch, der an Hunger stirbt, so aussieht.“ Klar war für sie: “Der Staat hatte das zugelassen, gewollt.“ Von nun an ging es nur noch darum zu verhindern, daß weitere Gefangene sterben.

Wie, das erfuhr Susanne Albrecht erst, als ein RAF-Kommando im Frühjahr 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm überfiel, mit dem Ziel, die Gefangenen freizupressen. Beteiligt an dem Anschlag waren neben anderen Bernd Rössner und Karl-Heinz Dellwo, Freunde, mit denen sie bis Weihnachten die Wohnung geteilt hatte.

Durchgängiges Motiv für ihr immer stärkeres Engagement erst für sozial schwache Kinder, dann für Hausbesetzer, dann für die Gefangenen sei ein spezielles „Schuldgefühl“ gewesen, sagt sie. Das reiche Elternhaus war besondere Verpflichtung. Und: „Wenn ich gar nicht mehr wußte, wie es weitergehen sollte, dann blieb mir immer noch, helfen zu wollen.“ Diesen Wunsch verfolgte Susanne Albrecht bis zur letzten Konsequenz, bis in die Veranda ihres „Onkel Jürgen“ Ponto. Der Bankchef sollte am 30.Juli 1977 entführt und gegen die Stammheimer Gefangenen ausgetauscht werden. Der Versuch endete mit einem Mord.