Verbrecherisches Familienidyll

■ Schnürschuh-Theater feierte Premiere mit „Kind. Mörder.“ im Konsul-Hackfeld Haus

Liebevoll-sadistisch operiert Jürgen Bartsch seinem Teddy ein Auge heraus. Jürgen ist einsam. Die Mutter läßt den Staubsauger dröhnend laufen. „Spiel doch mal was Richtiges“, fordert sie ihr Kind auf. Jürgen ist ein braves Kind. Die Mutter wäscht Jürgen, der, obwohl schon groß, sich das gefallen läßt. Jürgen ist sauber.

Schnürschuh-Premiere am Donnerstag Abend im randvollen Konsul-Hackfeld-Haus: „Kind. Mörder. — Jürgen Bartsch — Aus Kindern werden Leute.“ Jung- Regisseur Carsten Werner stellt im umfangreichen Begleitheft Fragen: „Wollen wir das Werden eines Mörders nachzeichnen? Zeigen wir Jürgen Bartsch, das Opfer seiner Eltern? Ein Opfer der Gesellschaft?“ Das Thema ist eine fast normale Kindheit.

Die Mutter wischt ächzend den von Jürgen beschmierten Küchenschrank sauber. Sie sinkt beim Bettenmachen seufzend auf Bett und beklagt ihre Totaloperation, die sie angeblich gefühllos gemacht hat. Jürgen schlitzt seinen Teddy auf. Im Internat quält Jürgen seinen Freund Norbert.

Jürgen Bartsch, der vier Jungen sexuell mißbraucht und umgebracht hat, hatte nach seiner Festnahme 1966 fast zehn Jahre Zeit, seine Jugend zu reflektieren. Journalistischer Voyerismus, wissenschaftlicher Selbstdarstellungstrieb und die Geldgier der Angehörigen führten zur Dokumentation aller Lebensäußerungen des Mörders, der sich ausführlich an seine kindlichen Gefühle erinnerte.

Sollte das Opfer Haare haben oder nicht? hatte sich Bartsch bei den ersten Quäl-Phantasien beispielsweise gefragt, aber dabei „an das Zerschneiden noch nicht so gedacht“. Lutz Gajewski alias Jürgen Bartsch springt kommentierend aus den Szenen seiner Kindheit. Seine Mutter sei wie ein Dragoner gewesen, bedrohlich und unberechenbar. Dann haben sie ihm ein Quartett geschenkt, aber nie mit ihm gespielt. Und der Vater war immer so laut und brummig. Und die Mutter hat ihm nie das Glied gewaschen und auch nicht erzählt, daß man es unter der Vorhaut sauber halten muß. In der Schule war er der Prügelknabe. Und wie die Nonnen die Jungen gedrillt haben, das war die Hölle.

Blitzlichter einer Biografie: so sprachlos wie das triste Leben des Jürgen Bartsch — kontrastiert mit dem Redeschwall des Inhaftierten, der seine Taten analytisch seziert. Lutz Gajawski verwandelt kindliche Einsamkeit, unterdrückte Sexualität und übertriebene Sauberkeit eifrig in bedeutungsvolle Blicke. Karin Uthoff als Mutter-Prototyp guckt strafend, verbittert, stemmt die Hände in die Hüften. Erkan Altun in den Rollen der Freunde und Opfer verkörpert die Leichtigkeit, die Naivität, den Frohsinn der anderen.

Das einzige, was an „Kind. Mörder.“ fesselt, ist die Authentizität der Geschichte, aber nicht die szenische Aneinanderreihung der banalen Kindheitserlebnisse. Pädagogisch Interessierte weiden sich am Verbrecherischen des bürgerlichen Familienidylls und bekommen Lust, die literarischen und wissenschaftlichen Texte über Jürgen Bartsch zu lesen.

Beate Ramm