Noch Fleisch, nicht Fisch

■ Auf halbem Weg zur Aktualität: ein fast schon wechselwarmer „Clavigo“ im Schauspielhaus

M. Oehl, W. Pauls, L. Herkenrath, H. Gohde, D. Diekmann (v.l.n.r.)Foto: Jörg Landsberg

Zwei Wochen vor der Premiere ist der Regisseur Mario Andersen endgültig gefallen unter dem Kreuz, das man mit ihm hatte. Da war große Not. Was anfangen jetzt mit dem Clavigo, Goethes altem, vergammeltem Gefühle kraftwerk? Trotzdem in Betrieb nehmen? Auch wenn spätestens im fünften Akt die Moralturbine heißläuft? Ex-Assistentin Sigrid Andersson faßte sich ein Herz und reparierte und renovierte mit dem Ensemble und baute ein Kühlsystem ein, und am Donnerstag im Schauspielhaus, da lief das Stück, mit Ächzen zwar, aber doch!

Clavigo ist ein schwieriger Kerl. Ein enormes Talent für alles und

hier

die

Hinterglas

Figuren

nichts, ein senkrecht aufdüsender Karriere-Journalist, getrieben von einem Gemisch aus heißer Luft und Liebe. Schnell entflammt für das Nächstbeste, noch schneller für das Gegenteil, und aber bloß manchmal für Marie, die darob verdirbt.

In einer anderen Welt gibt es einen Ganzen Mann. Goethe hat die grausamste Theaterchemie verwendet und ihn dreigeteilt. Die Drittel können alles, nur nicht voneinander lassen: Erstens Carlos, der Stratege. Hat für den Freund Clavigo, statt Marie, einen Aufstieg und die Weiber. Zweitens Beaumarchais, der Sturmbock. Will, daß Clavigo die

Schwester Marie heiratet. Im Schauspielhaus ist er der Bruder Schmuddelfighter (very straight: Dirk Diekmann) vom Subproletariat nebenan. Drittens Clavigo. Das restliche Spaltprodukt, wie es sich eben verflüchtigt.

Wir ahnen, welcher Überdruck nötig ist für solche Zerlegung. Wir sehen, dank Anderssons Instandbesetzung, ein wenig von der Macht, mit der der Reaktor dieser Bürgerlichen Gesellschaft mbH sein Personal, während es vorwärtskommt, auflöst. Im Falle Clavigos (Mathias Herrmann) hat man es aber zu bitterbös gemeint: Da ist bloß noch ein armseliger Tropf Quecksilber übrig geblieben. Ein sabberndes Anti-Talent, und zum Zugrunde-Aufsteigen viel zu dumm. Man gäbe ihm ohnehin keinen Kiosk, geschweige eine Wochenzeitung.

Einige gute Ideen sind auf das Stück angewandt, keine hat ganz umgesetzt werden können. Maries familiäres Biedermilieu als fischkaltes, blubberndes Aquarium, das macht, als Gegenpol zur Welt, wo Männer streben, eine intelligente Dramatik her. Aber nur auf der Szene (Bühnenbild: Manfred Breitenfellner) Den Schauspielern, die darinnen hausen wie in einer Stube, ihnen hat sich das beklemmende Wesen der Lurche noch nicht mitgeteilt.

Vieles ist, wie gesagt, auf halbem Weg befindlich. Wenn es nach den Kostümen (Petra Kray) geht, spielt das Stück im Spanien der Mittsiebziger, als der alte Franco endlich siech ward. Aber außer Hosen mit Schlag und einem Diktaphon hat die Zeitmaschine offenbar nichts mitnehmen können. So bleibt, was immer sie auswirft, ein Attribut geplanter Zeitbezüge, also ein Rätsel.

Ich vergaß den Fernseher. Der rettet das Stück am Ende aus größter Bedrängnis. Im fünften Akt nämlich, wo, nach dem Willen des Alten, eine höhere Ordnung den Menschen beim Schopfe packt und, ob tot oder lebendig, aus seinem Treiben erhebt, da sehen wir Carlos und Clavigo vor der Glotze, und hören erhabene Glotzemusik und die Stimme von Clavigo, wie er erstochen wird und bereut, und sehen den Bühnenclavigo, wie er entschlummert vor süßer Langeweile, und dann ist die letzte Folge der Serie aus und zuende. Grad noch das Steuer herumgeworfen und dem Zuschauer ein Schleudertrauma angehalst, der plötzlich alles aus einer entgegengesetzten Richtung sieht. Und von weit weg. Hinter der blinden Glastür drängen sich, während Carlos seine summarisch-weisen Schlußtext vorliest wie einen Abspann, die erstarrten Mitspieler jenseits des Fernsehens. Manfred Dworschak