»Fortsetzung jenseits des Ludwig-Kirch-Platzes«

■ Die Pariser Straße am Rande von Wilmersdorf ist unterhaltsam, ruhig und hat ganz verschiedene Gesichter

Weil ich mich einigermaßen auskenne, sage ich niemals zum Taxi-Fahrer nur »Pariser« und füge lapidar die Hausnummer an. Denn dann ist die Verwirrung programmiert und das Taxameter tickt erbarmungslos einem heftigen Streit mit dem Kutscher entgegen. Die Pariser ist zweigeteilt, mindestens. Kommt man vom Olivaer Platz, steht man vor dem plötzlichen Ende der Pariser, ratlos. Nur das Blechschild über dem Straßenschild hilft. Dort steht keine historische Erläuterung, woher die »Pariser« ihren Namen hat: Von »Paris« natürlich, seit dem 4. November 1895. Über dem Straßenschild steht: »Fortsetzung jenseits des Ludwig-Kirch-Platzes«.

Diesseits stehen am Beginn der Pariser wie zwei Zerberusse Leuchtschilder in blau-weiß- gelb »Bezirksgeschäftsstelle Kraftfahrer- Schutz« und in gelb-rot »Solarium Sensation«. Was folgt, sind Kneipen, Cafés, Geschäfte. Berühmtheiten sind darunter, wie das »Meadows«, wo sich heute die junge Wilmersdorfer Mischung zusammenfindet, die jedem metropolitisch Empfindenden Depressionen macht. Oder das »Khan«, wo sich vor mehr als zehn Jahren die wahren Kommunisten trafen, die von der KPD »Rote Fahne«. Heute ist die rote Fahne verblaßt. Rot-grün regiert an der Ecke Sächsische Straße. »Jimmys Diner« scheint es grell von der Hauswand und lockt zu echten amerikanischen Hamburgern, mexican food und Corona-Bier. Doch das ist schon nicht mehr die »Pariser«.

Für mich beginnt sie erst nach dem Sprung über den Platz und die St. Ludwig Kirche. Um drei, wenn die Nacht ausklingt, in der »Weißen Maus«. Dort serviert der Barmann den »Latin Lover« und Barmusik beruhigt angespannte Nerven. Draußen vor der Tür beginnt dann die Pariser zum zweitenmal. Man kann sie, den Blick über die Straße hin- und herspringen lassend, schnell durchstreifen. An der »man's art gallery Janssen« halten die Torsi schöner Männer im Schaufenster kurz auf. Erigiert ist die Männlichkeit nur bei den erotischen Flaschenöffnern für 25 Mark. Gegenüber das »Wirtshaus Paris 15« mit Pool Billard und Turnier Dart und von dort zum Antiquitätengeschäft, Surferladen und zum Hotel Domus. Das hat eine Billigpension verdrängt, in der in den Siebzigern einmal eine Bombe zu früh hochgegangen ist.

Über die Uhlandstraße hinweg eröffnet die Dynastie Arsini die dritte Variante der Pariser. »Gelateria Italiana« heißt das Ristorante mit dem knarrenden Eingang aus Glas und Aluminium und wird jetzt von Giancarlo geführt. Er übernahm das Ristorante von Vater Emilio, dem es 1955 dessen Vater übergeben hatte. Die Arsinis sind 1936 aus Norditalien nach Berlin gekommen und die Gelateria existiert seit 1939. Prominenz aus der Studentenbewegung hat hier verkehrt und manch einer, inzwischen zum Verlagsleiter oder Stadtrat mutiert, ist der »Galeria Italiana« über die Jahre treu geblieben. Gemäldegalerien, ein Hundesalon, ein Antiquariat, Möbel- und andere kleine Geschäfte dominieren diesen Teil der Pariser. Hier wohnt gehobene Einkommensklasse, was unschwer mit einem Blick vom Balkon des vierten Stockes in die gepflegten Wohnungen gegenüber zu erkennen ist. Von hier oben sind aber auch Merkwürdigkeiten zu sehen. Jener Spielplatz, der sich in die einzige Häuserlücke drückt und über dem an der Häuserrückwand riesige Luftballons in einem geradezu obszönen Rot leuchten. Am Ende, direkt an der Fasanenstraße, liegt ein Ärgernis. Nicht für mich, denn mir ist ein fulminanter Trommelwirbel, der mich an einem Sommermorgen weckt, lieber als das eunuchenhafte Fiepsen eines Elektroweckers. Doch »der frißt sich noch die ganze Straße entlang«, schimpft ein Anwohner und meint das »sound & drum land«. Begonnen hat es mit einem Schaufenster. Heute zieht sich die erste Adresse für Rock-und Pop-Musiker dieser Stadt, wenn sie Instrumente für die große Karriere brauchen, eine ganze Häuserfront entlang. Lindenberg kauft hier ein und Billy Cobham, wenn er in Berlin ist.

Das vierte Gesicht der Pariser, hinter der Fasanen, hat Beton vorm Kopf. Ein quergestelltes Hochhaus läßt nur Fußgänger unter sich hindurch und versperrt den Blick über die Pariser hinaus. Hierhin verirre ich mich nur. Ins Caligula, vor das Hally Gally, das schon wieder geschlossen ist, in die unübersichtliche Mischung aus Handwerk, Galerien, verlassenen Geschäften und einem Laden für Esoterisches. Die Pariser Straße gibt es nicht und auch der Taxifahrer fragt: »Welche Pariser? Die Olivaer?, die von der Uhland oder die Sackgasse?!« Raul Gersson

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Foto: Katharina Eglau