Der Recycle-Regierungssitz

■ Berlin im Jahre 2006: Eine ökologische Vision vom Olympiade-Austragungsort, der als Regierungssitz wiederverwendet werden kann/ Stadtschloß als Turnhalle und Kanzleramt

Berlin, 27. April 2006 (taz- Sonderbericht). Die Hauptstadt ist gestern endlich zum Regierungssitz geworden. Exakt 15 Jahre nach dem Versprechen des damaligen Kanzlers Kohl (CDU), in ebendemselben Zeitraum Berlin zur Regierungsstadt aller Deutschen zu machen, ist der Traum wahr geworden. Unter reger Anteilnahme der spalierstehenden Bevölkerung fuhren gestern nachmittag die Möbelwagen von Kanzlerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) und der Bundestagsabgeordneten durchs festlich geschmückte Brandenburger Tor. Die Lasterkolonne der Parlamentarier bog gleich zum Reichstag ab, denn davor, auf dem Platz der Republik, sollen nun die Parlamentarier in kubischen und würfelförmigen Unterkünften eine neue Heimat finden. Der LKW der Kanzlerin, dem eine Gruppe Jugendlicher ein blau-weißes Spruchband mit der zweifelhaften Parole »Willkommen Hertha Verstäuchler-Berlin« entgegenhielt, brauste hingegen nach einer Ehrenrunde Unter den Linden in Richtung Stadtschloß.

Dort wartete schon ein Trupp regierungsangestellter Möbelpacker, um das neue Kanzlerdomizil bezugsfertig zu machen. Wenn die Kanzlerin nun wie geplant übermorgen früh mit einer Sondermaschine in Berlin landen und anschließend feierlich ins Schloß einziehen wird, dann wird sich das letzte Stadium einer genialen Idee des Olympia-Planers Max Grützke verwirklichen. Die Bewerbung Berlins um die Olympiaspiele des Jahres 2000, hatte Grützke bereits 1991 formuliert, »muß originell und einzigartig sein, ein atemberaubendes Feuerwerk von Maßnahmen. Die ganze Welt muß staunen.« Sein Grundgedanke des »modernen umweltfreundlichen Regierungssitzes — wiederverwendbar, abwaschbar, recyclingfest« war so einfach wie überzeugend: Angesichts der unerwartet hohen Kosten der deutschen Wiedervereinigung konnte man eine erschwingliche Repräsentativität der Zukunftsbauten dieser Stadt nur dann erreichen, wenn man diese von Anfang für eine moderne ökologische Mehrfachverwendung vorsah.

Ob die in den folgenden Jahren entstandenen Grützkeschen Werke sämtlich atemberaubend waren, muß jede Person für sich entscheiden. Originell aber war sicherlich das auf altem Platz neu errichtete Schloßgebäude, das mit wenigen prunkvollen Schau- und Trennwänden auf Rädern wahlweise zur Touristenattraktion Stadtschloß nach altem preußischen Vorbild, zur Olympia-Turn-und- Ringerhalle oder zum Bundeskanzleramt umgewandelt werden kann. Für seine Fundamente wurde kostensparenderweise die Asbestverkleidung des an selber Stelle abgerissenen Palazzo Prozzo verwendet. Ökonomisch und ökologisch überzeugend war auch die Lösung für die Fußböden im Inneren: Sie bestehen aus abwaschbarem Poläthulix-Ester, einem biologisch abbaubaren und schweißresorbierenden Kunststoff mit täuschend echt wirkender Marmorierung. Die marmorne Härte, denen die Knochen der tapferen Olympia-2000-Athleten trotzten, hat sich in das Gedächtnis von Millionen TV-Zuschauern eingegraben. Und nun wird die schweißaufsaugende Qualität des Materials auch auf den Kanzlerberaterstab ihre wohltuende Wirkung erzielen.

Wohl etwas weniger überzeugend sind die Grützkeschen Fraktionswürfel vor dem Reichstag gelungen, die gestern das Ziel der anderen Lastwagenkolonne waren und im Jahr 2000 noch als Umkleidekabinen der Olympiasportler gedient hatten. Von der Tradition der SPD-Baracke in Bonn ausgehend, hatte der Olympiade-Planer wohl angenommen, daß eine Akzeptanz von Abgeordneten- und Fraktionsbaracken leicht zu erzielen sei. Schon kreisen Gerüchte in Berlin, daß die Abgeordneten in einen fraktionsübergreifenden Einzugs-Streik treten und die Politcontainer statt dessen mit Polizeihunden füllen wollen.

Diese könnten dann, wie weiland der Höllenhund Cerberos den Hades hinter dem Flusse Styx, den Zugang zu den Wohnpalästen der Ministerialen und der Diplomaten hinter dem Spreebogen bewachen. Jene luftige metropolitane Hochhauskulisse aus recycletem Glas und Altbausteinen aus ehemals besetzten Häusern, die vor sechs Jahren ihre Einweihung als Olympisches Dorf fand, begeisterte damals auch schon unsere internationalen Gäste.

Nur die Grünen als Juniorpartner der Allparteienkoalition waren weiland nicht begeistert. Verteidigungsminister Hubert Kleinert wagte es sogar, sich in das Ressort des Bauministers einzumischen und im Hinblick auf die erwähnten Altbausteine mutig von »Zynismus« zu sprechen. Doch es half ihnen nichts. Das einzige, was Frauenminister Joschka Fischer in zähen Nachverhandlungen erreichen konnte, war der Abbau des von ihm tapfer als »Macho-Monument des Militarismus« gegeißelten Goldengels auf der Siegessäule und sein Ersatz durch den blauen Umweltengel. Ute Scheub