Für einen Kurzarbeiter gibt's 100 Quadrameter Land

Neue Wege für das Stahlwerk Henningsdorf: zwei Schritte zurück und einen nach vorn/ Geschäftsführer: 1992 beginnt die Baukonjunktur — „und dann gehört der Markt für Betonstahl uns“/ Auch beim Strukturwandel gibt es eine Perspektive: Firmen, die Berlin verlassen wollen  ■ Von Irina Grabowski

Die riesige Pfanne mit ihrem glühenden Inhalt schwenkt wie ein Spielzeug durch die noch viel größere, dunkle Halle. Der Widerschein beleuchtet das unidentifizierbare Durcheinander ringsherum kaum. Es ist fast unerträglich heiß. Plötzlich, beim Abkippen, verschließt sich die Öffnung. Ein Stahlarbeiter sticht hinein — für die Besucherin ein waghalsiges Manöver. Der flüssige Stahl donnert funkensprühend auf den Boden der Halle — fast heiter, mit großer Gelassenheit jedenfalls, beobachten die Männer das feurige Schauspiel.

Eigentlich sollte hier nach dem Krieg nie wieder Stahl gekocht werden — jedenfalls nach den ersten Vorstellungen der sowjetischen Besatzungsmacht. Denn zunächst sollte das Stahlwerk Henningsdorf, die Schinderbude des Kriegsverdieners Flick, nach dem Zweiten Weltkrieg ins siegreiche Sowjetland verladen werden — zerlegt in seine Einzelteile. Doch dann überlegten es sich die Reparations-Kommissare anders, und am 12. März 1948, vor etwas mehr als 43 Jahren, ergossen sich aus dem ersten wiederhergestellten Siemens-Martin-Ofen 50 Tonnen gleißenden Stahls in die Kokillen.

Heute sind die legendären Anlagen der ersten Stunde, aber auch die nachfolgenden Stahlöfen der gleichen Generation, längst Schrott. Und auch in die letzten, die noch im Altwerk standen, haben die Abrißbirnen eingeschlagen — die Blockstahlproduktion, ein veraltetes und ineffizientes Verfahren, ist bereits beerdigt.

Aber auch die Herstellung von Qualitätsstahl ist erschüttert: Einen völligen Einbruch gab es nach der Wende, als die bisherigen Großkunden aus dem Fahrzeugbau ausblieben. Die Betriebe in Zwickau, Eisenach und Ludwigsfelde, inzwischen verlängerte Werkbänke großer westdeutscher Automobilkonzerne, werden nun von deren Hauslieferanten aus den Altbundesländern bedient.

Die eigentliche Stärke des Unternehmens, das nun als Hennigsdorfer Stahl GmbH (HSG) firmiert, ist jedoch der Bau- und Betonstahl. Und dabei soll es auch bleiben, selbst wenn 200.000 Tonnen jährlich nach der Währungsunion aus dem Auftragsbuch gestrichen werden mußten. Sie gingen unter Preis, aber für Devisen, in den arabischen Raum — volkswirtschaftlich ein unsinniges Zuschußgeschäft.

Innerhalb weniger Monate rutschte der Absatz von Betonstahl in der Noch- und dann Ex-DDR um 50 Prozent. Ausgeglichen wurde dies jedoch durch — wie die westdeutsche Konkurrenz monierte — „aggressive“ Verkaufspolitik auf den Märkten der Altbundesländer. „Für Westunternehmer ist jede Tonne Stahl, die im Osten produziert wird, eine zuviel“, weiß Geschäftsführer Eckhard Krone.

Doch für den im planwirtschaftlichen Wirrwarr großgewordenen Experten ist die Stahlproduktion im Land Brandenburg noch nicht am Ende. Im zweiten Quartal 1991, spätestens aber 1992, wird sich nach seiner Rechnung die Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern erholt haben: „Und dann gehört der Markt für Betonstahl hier uns. Punkt.“ Der technologische Rückstand gegenüber westdeutschen Herstellern, der mit 25 Mark je Tonne Betonstahl zu Buche schlägt, würde dann durch geringere Transportkosten ausgeglichen werden.

Mit einem geplanten Umsatz von 590 Millionen Mark — über die Produktionsmengen wird Stillschweigen bewahrt — könnte das Stahlwerk schon 1991 schwarze Zahlen schreiben. Nur ein Drittel der 75 Millionen DM, die die Treuhand als Liquiditätskredit für das zweite Halbjahr 1990 bewilligt hat, wurde für die eigenen Verluste verbraucht. Zwei Drittel gingen auf das Konto säumiger Kunden, mehr als die Hälfte davon aus den alten Bundesländern.

Das neue Unternehmenskonzept, vom HSG-Aufsichtsrat bestätigt und von der Treuhand stillschweigend angenommen, sieht die Konzentration auf das Kerngeschäft Stahl mit seinen drei Standbeinen vor: dem Bau- und Betonstahl im Neuwerk, dem Konstruktions- und Formstahl im Altwerk und der Verarbeitungsstufe Blankstahl. Sämtliche Nebenbetriebe sollen abgestoßen werden. Die Fertigung von Motorteilen und eine Heizungsbaufirma werden der sanften Privatisierung zugeführt. Sie werden als 100prozentige HSG- Töchter solange über Wasser gehalten, bis sich — im günstigen Falle — Leute aus der Belegschaft auf die Übernahme vorbereitet haben.

Eine Schweizer Firma wird einen Betrieb für Wohnwagen, ein französisches Unternehmen die Gasversorgung übernehmen. Auch die Schrottaufbereitungsanlage kommt unter den Hammer. Und der westdeutsche Baukonzern Philipp Holzmann will in Hennigsdorf Betonteile herstellen. Die Kaufverträge für fast alle Ausgliederungen liegen auf dem Tisch — es fehle, so Krone, nur noch der Segen der Treuhand.

Rund 30 Millionen Mark, für die die Treuhand 1991 die Bürgschaft übernommen hat, werden in die Rekonstruktion der Strangguß- und in die Verpackungsanlage investiert. Krone schwebt außerdem eine Genauwalzstraße vor, um vielleicht doch noch einen Fuß auf den Qualitätsstahlmarkt zu bekommen. Denn der ist der einzige, mit dem sich auf dem westeuropäischen Stahlmarkt noch ordentlich Geld verdienen läßt.

Ohne die Produktion von Qualitätsstahl werden 1993 nur noch rund 1.200 StahlwerkerInnen in Henningsdorf Arbeit haben. Von den 6.000 Beschäftigten sind seit März insgesamt 2.000 auf Kurzarbeit Null gesetzt. Für die Stahlstadt Henningsdorf mit ihren 28.000 EinwohnerInnen bedeutet dies einen radikalen Strukturwandel.

17.000 Menschen aus der Stadt und ihrer Umgebung waren in sozialistischen Zeiten im Stahlwerk und beim LEW beschäftigt, dem zweiten großen Betrieb am Ort. Die LEW, die Lokomotivbau-Elektrotechnischen Werke, werden voraussichtlich bei der Daimler-Benz-Tochter AEG landen.

Andreas Schulz, der SPD-Bürgermeister von Henningsdorf, der selbst beim LEW gearbeitet hat, sieht mittelfristig gute Chancen, durch Neuansiedlungen die ungesunde Monostruktur der Metallverarbeitung zu durchbrechen. Mit Autobahn- und Schienenanschluß habe die Stadt am Berliner Ring eine günstige Verkehrslage. Nur der S-Bahnanschluß fehlt noch. „Unser Standort gründet sich nicht auf Hoffnung“, macht sich Schulz Mut. Er setzt auf den „natürlichen Verdrängungswettberb“, der die Firmen aus Berlin herausbringen werde — das Büro von Schulz ist nur 20 Kilometer vom Alexanderplatz entfernt.

Wie hoch die Arbeitslosigkeit in Henningsdorf in ein paar Monaten, nach den Entlassungen auch bei LEW, sein wird, kann Schulz derzeit noch nicht sagen. Für den schwierigen Übergang haben sich das Stahlwerk, die Kommune und eine Westberliner Weiterbildungsfirma zu einer „Innovations- und Entwicklungsgesellschaft“ zusammengeschlossen. Das LEW zeigt hingegen nur zurückhaltendes Interesse.

Inzwischen wurden die ersten Kurzarbeiter im Stahlwerk durch die „Orientierungs- und Eignungserprobung“ geschleust. 24 Bildungsangebote, beispielsweise die Umschulung zum Konstruktions- oder Industriemechaniker sowie zum Wirtschaftskaufmann, stehen zur Auswahl. Geschäftsführer Krone täuscht sich nicht darüber, daß ein desolates wirtschaftliches Umfeld eine gezielte Qualifizierung ungeheuer erschwert. Die Investoren wurden verpflichtet, pro 100 Quadratmeter verkauftes Betriebsgelände einen umgeschulten Kurzarbeiter zu übernehmen oder 15.000 Mark für die Finanzierung des Sozialplans einzuzahlen.

600 Kurzarbeiter werden als ABMler über einen Zeitraum von zwei Jahren die ausgedienten Öfen, Schornsteine und Schrottplätze, ihre jahrelangen Arbeitsplätze, eigenhändig wegräumen. Die ersten 50 bereiten seit Anfang April diese Arbeiten vor. Die Kommune hat die Trägerschaft für die ABM-Stellen übernommen und 60 Millionen Mark Personal- und Sachkosten beim Bundesarbeitsministerium beantragt. Im Gegenzug geht ein Streifen des ehemaligen Werkgeländes in kommunales Vermögen über. Hier soll in einem „Technologie- und Gründerzentrum“ getestet werden, welchen Effekt die Förderungsmittel von Bund und Ländern für Mittelstands- Newcomer haben.

Das Geld vom Staat ist schließlich lange genug ausgeblieben — seit Mitte der siebziger Jahre wurde im Stahlwerk in Henningsdorf so gut wie nichts mehr investiert. Über die Interessenten an der HSG sind indes nur Gerüchte zu erfahren; jedenfalls von den Männern, die rund um den Strahl glühendheißen Rohstahls stehen, der aus der Pfanne auf den Boden knallt. Der Aufbau der neuen Stranggußanlage hat bereits begonnen — aber noch übertönt das Donnern des flüssigen Metalls die leisen Monatgegeräusche des Neuanfangs.