INTERVIEW
: Keine Spaltung, aber Trennung

■ Wolfgang Templin, profilierter Oppositioneller in der ehemaligen DDR, plädiert für einen grundlegenden Neuanfang der Grünen

taz: Die Grünen 1990 sind nicht zuletzt daran gescheitert, daß sie zum zentralen Thema „deutsche Einheit“ keinen Zugang fanden. Was sind die Konsequenzen hieraus?

Wolfgang Templin: Das grüne Versagen 1990 ist eng verknüpft mit dem anachronistischen Dogma der Zweistaatlichkeit und dem Festhalten an altlinken Ideologieresten. Das Bewußtsein über diese Ursachen des Scheiterns ist mittlerweile innerhalb der Grünen deutlich gewachsen. Es gibt aber auch nach wie vor die Tendenz, die Krise der Grünen auf ungünstige Umstände und einzelne Fehler zurückzuführen. Ich denke, die Grünen müssen ihre Selbstkritik bis zur Wurzel treiben. Mit Formeln wie „der praktizierte Sozialismus war schlecht, aber die eigentliche Wertegrundlage, die sollte man doch behalten“, ist überhaupt nichts gewonnen. Das Ideal der Formbarkeit von Gesellschaft und Individuum, die Vorstellung, Wahrheiten zu besitzen und damit auch die Gewißheit des Weges — dieses Unbedingte, das Toleranz und Kompromiß immer nur als sekundär oder taktisch begreift, müssen die Grünen hinter sich lassen.

Es bleibt abzuwarten, wozu sich dieser Bundeskongreß durchringen kann, denn die Verlockung, sich aufs sichere linke Gelände zurückzubesinnen, besteht vor allem wegen der ökonomischen und sozialen Folgen der Einheit weiter. Hier könnten sich die kanonisierten Linken mit denen treffen, die ihr kulturelles DDR-Reservat erhalten wollen.

Erschwert das über Jahre hinweg gebrochene Verhältnis von Teilen der Grünen zu den osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen die Chancen einer Kooperation?

Es macht keinen Sinn, diese Erfahrungen herunterzuspielen. Es gab in den achtziger Jahren unterschiedliche Interessenlagen. Ein Großteil der DDR-Opposition hat als Linke, die für einen demokratischen Sozialismus eingetreten sind, die Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie als die wichtigste Voraussetzung für jede weitere Entwicklung begriffen. Das hat ihnen von seiten vieler West-Linker und Grüner nur Kopfschütteln und Unverständnis eingebracht. Als Linke Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ernst zu nehmen, galt vielen als Naivität. Nur wenige haben sich damals in den Grünen gegen das Zurückfallen in die Lagermentalität gewandt.

Spiegelt sich die gesellschaftliche Ost-West-Spaltung auch im Verhältnis der West-Grünen zu den Bürgerbewegungen?

Früher traf man sich hin und wieder. Jetzt soll man plötzlich miteinander Politik machen. Da wächst nicht unbedingt eine Spaltung, aber doch der Problemberg. Man kann darauf mit dem Gefühl der Überforderung, mit Rückzug, mit Vorurteilen, aber auch mit Neugier und Energie reagieren. Es ist für viele nicht einfach zu verstehen, daß das viel größere Maß an Autonomie, individueller Freiheit und Emanzipation in dieser Gesellschaft oft nur um den Preis von Rationalität und Kalkulation zu haben ist, Verhaltensweisen, die auf viele Ostler sehr befremdend wirken. Ich kann die Reaktionen der frisch aus der DDR Herausgefallenen beobachten. Ich selbst habe diesen Prozeß auch erlebt, hatte aber mehr Zeit zu erfahren, daß auf dem Boden dieser Gesellschaft eben kein Automatismus herrscht, der bestimmte Verhaltensweisen erzwingt. Man kann aber auch nicht behaupten, Solidarität und Kooperation würden im Westen zwangsläufig verhindert.

Grüne und Bürgerbewegungen beklagen oft und nicht immer ohne arroganten Unterton, Egozentrik, Flügelstreit und Politikunfähigkeit der Grünen-West. Genau das aber charakterisiert auch den Zustand der ehemaligen DDR-Opposition.

Völlig richtig. Deswegen sind ressentimentgeladene Anwürfe an die West-Grünen blödsinnig. Die Bürgerbewegungen haben viele Lernschritte vor sich, die sie in sehr viel kürzerer Zeit und deshalb wohl auch intensiver durchmachen müssen als die Grünen. Die Bürgerbewegungen stehen vor der Alternative, sich zusammenzuraufen, um ihr politisches Gewicht zu stärken, oder sie fallen in die Bedeutungslosigkeit zurück. Die Konsequenzen, die gezogen werden müssen, sind Abschied vom Gestus des Ganz-anders-Seins, Abschied von überzogenen Vorstellungen, die an die Stelle alter Utopien und Illusionen sofort neue setzen. Wichtigste Aufgabe ist: die Vielfalt der Projekte und Initiativen nicht aufzugeben, aber die Beteiligung im Parlament und die politische Präsenz dennoch effizient zu machen.

Gibt es auch im Osten Parallelen zum Grünen-Flügelstreit?

Diesen Konflikt gibt es weniger spektakulär auch in den Bürgerbewegungen. Ich denke, daß eine Reihe von Leuten die Bürgerbewegungen und die Grünen verlassen werden. Wer noch immer hofft, beide als jeweils eindeutige Seite im alten Weltanschauungskonflikt zu sehen, wird mit der Entwicklung nicht klarkommen. Grüne und Bürgerbewegungen werden nur zusammenkommen, wenn die Abspaltung von Flügelexponenten gelingt. Ich sehe aber auch Chancen. Denn gerade die Konflikte der nächsten Jahre im ökonomischen und sozialen Sinne werden das Bedürfnis nach einer traditionell linken Antwort auf diese Herausforderung nicht verstummen lassen. Und wer sich dem stellen will, wird sich auch zusammenfinden, in der PDS oder sonstwie. Das kann eine produktive Herausforderung werden, aber es wird eine sein, die sich nicht innerhalb, sondern zwischen unterschiedlichen Organisationen abspielen wird.

Hältst du die Forderung nach einer Grünen-Vorstandssprecherin aus dem Osten für berechtigt?

Sie ist berechtigt, kommt aber zu unvermittelt und hätte angemessene Akzeptanz bei den West-Grünen nur dann gefunden, wenn die Ost-Grünen stärker ihr eigenes Gewicht eingebracht hätten. Sie sind aber für den Grünen-Diskussionsprozeß viel zuwenig sichtbar. Ich denke, daß dieser Anspruch nur deswegen durchkommt, weil einzelne Personen dafür stehen. Der Zusammenschluß im Herbst letzten Jahres war ja nur ein äußerlicher, mechanischer Prozeß. Da hat auch die Verführung gewirkt, sich trotz der eigenen Schwäche und fehlenden Erfahrung und ohne breite Basis in die Arme der großen Schwester zu begeben.

Unter dem Stichwort Strukturreform, Professionalisierung und Personalisierung von Politik werden derzeit Veränderungen diskutiert, die so etwas wie den Abschied von der „Antipartei“ markieren. Steht diese Entwicklung im Widerspruch zum Bürgerbewegungsgedanken?

Ganz im Gegenteil: Nur eine gelungene Strukturreform kann das Dilemma der Grünen beenden, damit die Kooperation mit den Bürgerbewegungen gelingt. Das verzweifelte und zugleich euphorische Schielen auf die Bürgerbewegungen als Rettungsanker oder Implantat für die Grünen ist eher Ausdruck der verfahrenen Situation. Die Bürgerbewegungen haben sich übrigens nie als ausschließende Alternative zu den Parteien gesehen, sondern als deren notwendiges Korrektiv. So sehr Bürgerbewegungen von ihrem Anspruch her nicht Partei sind, so sehr müssen auch sie sich bestimmten Kriterien, die an politisches Handeln gestellt werden — Professionalität, Effizienz, Existenz in einer Öffentlichkeits- und Mediengesellschaft — aussetzen.

Was bringt ihr inhaltlich ein, und wo liegen die Übereinstimmungen mit den Grünen, die eine Kooperation und später den Zusammenschluß sinnvoll erscheinen lassen?

Was wir einbringen, ist die Vorstellung von einer Beteiligungsdemokratie, die den demokratischen Anspruch nicht auf die eigene Klientel bezieht, sondern die Forderung nach Mitgestaltung für die ganze Gesellschaft reklamiert. Bei den Grünen sehe ich die libertäre Tradition und den Zusammenhang zwischen ökologischer und demokratischer Frage, die unseren Vorstellungen entgegenkommt. Libertär meint, einen eigenen Zugang zum Spannungsproblem von Freiheit und Gerechtigkeit, der so allen anderen Teilen der Linken verschlossen geblieben ist, die im Interesse von Gerechtigkeit glaubten, auch Einschränkung von Persönlichkeitsrechten und Reglementierung hinnehmen zu können.

Die einzige Chance für Gerechtigkeit und Solidarität liegt aber in der Entwicklung von Autonomie und persönlicher Freiheit, nicht als Garantie, aber als Chance. Dieses Verständnis beinhaltet immer auch die Frage, was man einer bestehenden Gesellschaft an Einsichten zumuten kann. Das bedeutet Abstriche vom Dogma des Sofort-und-total, die Suche nach Kompromissen, den Weg der Überzeugung und den Respekt vor der Entscheidung anderer.

Was muß der Parteitag leisten?

Auf der Bundesversammlung müssen sich diejenigen durchsetzen, die nicht für das „weiter so“ eintreten, Leute, die eine lähmende Balance der Flügel ablehnen, die Konsequenzen ziehen wollen aus den politischen Mißerfolgen. Das beinhaltet auch, die Herausforderung durch den deutschen Einigungsprozeß anzunehmen. Wenn es die Grünen nicht schaffen, die Situation in den neuen Bundesländern an zentraler Stelle zu diskutieren, können sie sich ihren ganzen Parteitag an den Hut stecken. Ich denke, es wird ohne Spaltung abgehen, aber nicht ohne Trennung eines ganzen Milieus von der Partei, für die die Grünen nach einer Reform, wie ich sie oben angedeutet habe, erledigt sein werden. Interview: Matthias Geis