Trauriges glückliches Arabien

Seit einem Jahr sind Nord- und Süd-Jemen wiedervereinigt. Eine neue Verfassung soll die Gegensätze zwischen dem traditionalistischen Norden und dem einst marxistischen Süden ausgleichen.  ■ VON DIETER FERCHL

Es waren gute Zeiten. Als sich die Arabische Republik Jemen und die Demokratische Volksrepublik Jemen am 22. Mai letzten Jahres zur Republik Jemen vereinigten, gingen die Menschen voller Freude auf die Straße. Sie feierten die beiden Politiker, die die lange ersehnte Vereinigung der einst verfeindeten Staaten vorangetrieben und schließlich ermöglicht hatten: den Präsidenten der jungen Republik, Ali Abdullak Salih und seinen Stellvertreter Ali Salimal- Baidh. Jetzt würde ihrem Land, so dachten die Jemeniten, endlich die Bedeutung zukommen, die ihm innerhalb der arabischen Welt zusteht: Der Jemen ist das bevölkerungsreichste und fruchtbarste Land der arabischen Halbinsel und ein uraltes Kulturgebiet.

Nach zähen Verhandlungen hatten sich der islamisch und prowestlich orientierte Norden und der sozialistische Süden auf einen eigentlich nicht eben naheliegenden gemeinsamen Nenner geeinigt: die weitgehende Demokratisierung des neuen Staates. Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurden gewährt. Die politischen Gefangenen wurden freigelassen und rehabilitiert. Und in der neuen Republik entstand eine ganze Reihe neuer politischer Parteien.

Die Behörden des neuen Staates begannen damals mit großen Investitionen zur Verbesserung der Infrastruktur. Seither werden die Straßen zwischen den wichtigen Städten asphaltiert, große Bauvorhaben wie Schulen und Krankenhäuser wurden begonnen, der Hafen Aden und die Universität in Sanaa wird vergrößert. Von besonderem Interesse für die Wirtschaft des vereinigten Jemen ist die Erschließung der ölreichen Region zwischen Marib und Shabwa im ehemals umstrittenen Grenzgebiet zwischen den beiden früheren Jemen: Dort werden nach vorliegenden Schätzungen 1,4 Billionen Barrel Öl sowie bedeutende Erdgasvorkommen vermutet. Die Schürfrechte wurden an fünf bekannte Unternehmen aus den USA, der UdSSR, Frankreich und Kuwait vergeben. Pipelines sollen gebaut werden, um das Öl zum Hafen Aden und das Gas in die städtischen Zentren des Nordens zu transportieren.

Der Jemen wird, so dachten die Bürger der neugegründeten Republik im letzten Jahr, nicht nur ein bedeutender arabischer Staat. Bald würde man auch ebenso reich wie die arabischen Nachbarn im Norden sein. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis der Jemen wieder das glückliche Arabien sei.

Am Anfang dieses Jahres richteten sich alle Blicke nach Bagdad und Kuwait. In Jemen wurden die Bilder Saddam Husseins neben die von Ali Abdullah Salih gehängt, undzwar so, daß beide Politiker einander anzuschauen, sich sogar zuzulächeln scheinen. Sanaa und Aden wurden zu Schauplätzen großer Demonstrationen. Hunderttausende zogen durch die Straßen. Endlich ein arabischer Herrscher, der es wagt, den USA und der gesamten nichtarabischen Welt die Stirn zu bieten! Die Menschen bejubelten diesen Mann, von dem sie dachten, daß er die Araber einen werde. Der Krieg ist vorüber. Viele Jemeniten empfinden seinen Ausgang als Schmach, als nationale Schande. Sie sind zutiefst enttäuscht, gereizt und streitsüchtig; sie beschimpfen und bedrohen die wenigen Europäer im Land. Doch es bleibt immer bei Worten. Zu groß sind Trauer und Resignation. Ein Heer von Arbeits- und Obdachlosen bevölkert die Straßen und Cafés der großen Städte. Arbeitsminister Abdurrahman Salim Dhaiban spricht von einer Million Jemeniten, die infolge des Krieges um Kuwait ihre Arbeit in den arabischen Ölstaaten aufgeben und in den Jemen zurückkehren mußten. 600.000 Menschen suchten zur Zeit aktiv nach Arbeit.

Die Arbeitslosen füllen die Cafés. Ohne Hoffnung tauschen sie Adressen angeblicher Arbeitgeber aus und erzählen von Bewerbungsterminen am nächsten Tag. Und am nächsten Tag sitzen sie wieder gelangweilt unter den Sonnenschirmen und warten. Erst der kräftige Frühlingsregen am Nachmittag bringt wieder etwas Leben in die Gesellschaft. Man rückt unter dem Vordach zusammen und manchmal wagt dann auch jemand wieder einen Scherz.

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Die islamische und rechte Presse ist dazu übergegangen, ihre Berichterstattung auf nationale, jemitische Belange zu beschränken. Die Kritik an dem neuen Verfassungentwurf des Vereingten Jemen spielt eine große Rolle. Linke Zeitungen dagegen kommentieren nach wie vor die Ereignisse am Golf und versuchen dabei durch zähes Festhalten an Illusionen, das Gefühl der nationalen Kränkung zu lindern. Die sozialistische Wochenzeitung 'Aden‘ schreibt: „Die Tatsache, daß der Irak es vermochte, den USA und der von ihr angeführten militärischen Allianz von 30 Staaten Widerstand zu leisten, ist ein großer Sieg! Der Krieg am Golf hat einmal mehr die tiefverwurzelte Feindschaft des Westens im allgemeinen und der USA im besonderen gegenüber dem arabischen Volk gezeigt. Die Skrupellosigkeit des angeblich so zivilisierten Westens bei der Wahl seiner Mittel hat sich in aller Deutlichkeit gezeigt! Trotz der militärischen Niederlage steht das irakische Volk weiterhin loyal zu seiner Regierung. Irak ist eine bedeutende Macht in der Region geblieben. Jetzt ist der Krieg vorüber, und wir sind gespannt darauf, zu beobachten, wie der Westen die Probleme des Nahen und Mittleren Ostens lösen will.“

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Doch zwei Wochen nach Kriegsende wurde die neue Verfassung der Vereinigten Republiken auch in solchen Zeitungen zum beherrschenden Thema. Diese Debatte steht in merkwürdigem Kontrast zu der eher resignierten Stimmung der Jemeniten. Demnächst soll der Verfassungstext in einem Volksentscheid abgestimmt werden. Die Regierung wirbt mit großem Aufwand für die neue Verfassung, im Fernsehen werden mehrmals täglich einige Artikel daraus verlesen.

Man muß die Vorgeschichte der Vereinigung von Nord- und Südjemen kennen, um diese komplizierte innenpolitische Auseinandersetzung zu verstehen: Am 30. November 1989 beging die „Demokratische Volksrepublik Jemen“ (Südjemen) ihren Nationalfeiertag. Zum 22. Mal jährte sich der Tag des Abzugs der britischen Kolonialmacht aus Aden, und damals war Ali Abdullah Salih, der Präsident der „Arabischen Republik Jemen“ (Nordjemen), zum ersten Mal in der Geschichte des Südjemen zu den Feierlichkeiten angereist. Er und der südjemenitische Regierungschef Haider Abu Bakr al Attas kündigten an diesem Tag die Vereinigung der beiden Jemen in allernächster Zukunft an.

Lange Verhandlungen waren diesem Termin vorangegangen. Seit ihrer Unabhängigkeit in den 60er Jahren hatten beide Jemen stets Ministerien und Staatssekretäre für Fragen der nationalen Wiedervereingung unterhalten. Die Teilung des Landes erklärte man seit den Revolutionen vom September 1962 im Norden und Oktober 1963 im Süden als ein Relikt aus der Kolonialzeit. Immer wieder hatten Verhandlungen stattgefunden, um die beiden Staaten einander näher zu bringen, immer wieder waren Verhandlungen abgebrochen worden, weil es Streitereien und militärische Auseinandersetzungen um den Verlauf der Grenze zwischen beiden Staaten gab. Über den Wunsch nach einer Vereinigung war man sich stets einig, über Mittel und Wege aber waren der islamisch und prowestlich orientierte Norden und der sozialistische Süden immer sehr verschiedener Meinung gewesen.

Im Laufe des Jahres 1989 war man schließlich zu einer Übereinkunft gekommen. Eine neue Republik sollte aus beiden Staaten gebildet werden. Und zum Nationalfeiertag am 30. November wurde der Entwurf einer neuen Verfassung veröffentlicht, die eine weitgehende Demokratisierung des vereinten Jemen vorsah. Diese Verfassung, so war es geplant, sollte innerhalb eines halben Jahres von den beiden Parlamenten ratifiziert und am 30. November 1990 durch einen Volksentscheid beschlossen werden. Doch es kam anders.

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Die voreilige Vereinheitlichung der beiden Wirtschaftssysteme und die ausbleibenden Subventionen einiger Grundnahrungsmittel führten zu starken Preissteigerungen im Süden des Landes. Im Januar 1990 traten die Beschäftigten der südjemenitischen Textil- und Düngermittelindustrie in einem unbefristeten Streik und forderten eine angemessene Ausgleichszahlung für die Preissteigerungen. Ihnen folgten die Beschäftigten der Ölindustrie, der Elektrizitätswerke, der Zentralbank und zehn weiterer Staatsbetriebe, ferner die Ärzte, Apotheker, Krankenschwestern und -pfleger. Ab März streikten die Studenten der Universität Aden, nachdem die sozialistischen Wissen-

schaften ersatzlos aus dem Lehrangebot gestrichen worden waren.

Im Nordjemen mehrte sich währenddessen der Widerstand gegen die geplante neue Verfassung. Es waren islamisch-fundamentalistische Kreise, denen die beabsichtigte Demokratisierung des neuen Staates zu weit ging. Sie forderten eine verstärkte Berücksichtigung der islamischen Sharia in der neuen Verfassung und lehnten Kompromisse mit dem ihrer Meinung nach „ästhetisch- marxistischen“ Süden entschieden ab. Eine Vereinigung der beiden Jemen, so betonten sie, müsse mit einer weitgehenden Islamisierung der Gesellschat im Südteil verbunden sein.

Angesichts dieser Ereignisse entschlossen sich die beiden Regierungen in Sanaa und Adeen zu einer neuen Vorgehensweise. Im April 1990 erklärten sie, die Vereinigung solle früher erfolgen als geplant. Nur so könnten die wirtschaftlichen Probleme im Süden gezielt und erfolgreich bekämpft werden. Eine Entscheidung um die neue Verfassung dagegen solle zunächst zurückgestellt werden.

Am 22. Mai 1990 wurde in Aden die Vereinigung der beiden Jemen verkündet. Mit diesem Termin trat eine Übereinkunft in Kraft, die Nordjemens Präsident Ali Abdullah Salih und Ali Salim al-Baidh, der Generalsekretär der „Sozialistischen Partei“ Südjemens, im April unterzeichnet hatten und die eine Übergangszeit von zwei Jahren und sechs Monaten für die Bildung des vereinigten Staates vorsieht.

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Folgende Regelungen gelten gemäß dieser Übereinkunft während der gegenwärtigen Übergangszeit: Die vereinigte Republik wird von einem Präsidialrat regiert. Der Präsidialrat besteht aus fünf Mitgliedern, die von der gemeinsamen Versammlung der beiden Parlamente gewählt werden. Die Mitglieder des Präsidialrates wählen bei ihrer ersten Sitzung den Vorsitzenden des Rates sowie seinen Stellvertreter. Bei diesem Treffen beschließen sie ferner die Bildung einer beratenden Versammlung, bestehend aus 45 Mitgliedern, und beauftragen eine Anzahl von Experten damit, die Vereinheitlichung des Staates voran zu treiben und die Folgen der Teilung zu beseitigen.

Die Volksvertretung setzt sich während der Übergangszeit aus den Abgeordneten beider Parlamente zuzüglich 31 weiterer Mitglieder, die durch Beschluß des Präsidialrates bestimmt werden, zusammen. Die Volksvertretung ist die legislative des Staates, und sie hat den Präsidialrat beauftragt, vor dem 30. November 1990 einem Verfassungsentwurf für einen allgemeinen Volksentscheid vorzulegen.

Die Übereinkunft für die Übergangszeit ist bis zum 22. November 1992 uneingeschränkt gültig. Gültig ist ferner die neue jemenitische Verfassung, sobald sie beschlossen ist und sofern sie nicht mit der Übereinkunft in Widerspruch steht. Am Ende der Übergangszeit finden Wahlen der neuen Volksvertretung statt.

Zum Vorsitzenden des Präsidialrates wurde Ali Abdullah Salih, Präsident des ehemaligen Nordjemen und Vorsitzender des „Allgemeinen Volkskongreß“, der nordjemenitischen Regierungspartei, gewählt; sein Stellverteter wurde Ali Salim al- Baidh, Generalsekretär der „Sozialistischen Partei“ Südjemens. Auch die übrigen Mitglieder des Präsidialrates sind prominente Politiker der beiden Regierungsparteien, die außerdem die Volksvertretung und die übrigen Gremien des Staates mit absoluten Mehrheiten dominieren.

Wenige Tage nach Verkündung der Wiedervereinigung ernannte der Präsidialrat ein neues Kabinett, bestehend aus 39 Ministern, das von der Volksvertretung bestätigt wurde. Ebenfalls angenommen wurde ein Gesetzentwurf, der eine weitgehende Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit garantiert. In der Folgezeit bildeten sich etwa 30 Parteien, die das gesamte politische Spektrum zwischen rechts und links abdecken, dazu eine nasseristische und eine Baathpartei sowie verschiedene islamische Gruppierungen, die unterschiedliche Formen des Fundamentalismus repräsentieren.

Pünktlich zum November 1990 legte der Präsidialrat eine neue Verfassung vor. Dieser neue Entwurf weicht in einigen Punkten von der Verfassung ab, die im Jahr zuvor veröffentlicht wurde, und beruht zu weiten Teilen auf Ergebnissen von Verhandlungen, die in den 70er und Anfang der 80er Jahre stattfanden, um die Vereinigung der beiden Jemen voranzutreiben.

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Unmittelbar nach Veröffentlichung des Entwurfs setzte im staatlichen Rundfunk und Fernsehen eine groß angelegte Werbekampagne für die neue Verfassung ein, die nun durch einen Volksentscheid beschlossen werden soll. Zur besten abendlichen Fernsehzeit gibt es lange und detailierte Diskussionen um einzelne Punkte.

Seit Anfang März dieses Jahres ist die Bevölkerung aufgerufen, sich in die Wahllisten für den Volksentscheid einzutragen. Die Regierung versucht, die Bevölkerung zu mobilisieren. 'Ath-Thaura‘, eine der Regierunszeitungen, schreibt Mitte März in ihrem Leitartikel: „Die Teilnahme am Volksentscheid um die neue Verfassung ist Pflicht für alle verantwortungsbewußten und ehrenhaften Staatsbürger, die die Einheit Jemens gutheißen! Wer „ja“ zur neuen Verfassung sagt, sagt „ja“ zur Einheit! Wer die Verfassung ablehnt, lehnt die politische und rechtliche Basis ab, auf der der vereinte Staat steht. Die boshaften Kampagnen gegen die Verfassung sind Kampagnen gegen die Einheit, gegen den modernen Staat, gegen Modernisierung, Fortschritt und Technologie!“

Die Gegner des neuen Verfassungsentwurfs begannen sich Anfang des Jahres zu formieren. In den zahlreichen, neu gegründeten Tages- und Wochenzeitungen äußern die Oppositionsparteien ihre Kritik. Die Parteien der politischen Linken fordern einem unverzüglichen Volksentscheid über die Verfassung. Die Übergangszeit soll ihrer Meinung nach drastisch verkürzt werden, Gesetze und Verordnungen sollen zügig vereinheitlicht werden.

Die Nasseristen lehnen den Volksentscheid ab und fordern die sofortige Wahl einer Volksvertretung, die eine neue, panarabische Verfassung für das Land erarbeiten und beschließen soll. Ferner müsse der Islam zeitgemäßer interpretiert werden als in dem vorgelegten Entwurf.

Die Mitte-Rechts-Parteien weisen darauf hin, daß es mittlerweile keine gesetzliche Grundlage mehr für einen Volksentscheid über die Verfassung gebe. Sie interpretieren die Übereinkunft zur Übergangszeit dahingehend, daß der Volksentscheid bis 30. November letzten Jahres hätte erfolgen müssen, eine Deutung, die die arabische Syntax an jener Stelle durchaus zuläßt. Ferner könne die Verfassung nur bis zum Ende der Übergangszeit gültig sein. Ein zweiter zentraler Punkt ihrer Kritik ist Artikel 129, der eine Dreiviertelmehrheit für Verfassungsänderungen vorsieht. Eine solche Regelung mache Änderungen und Ergänzungen nahezu unmöglich. Die Werbekampagne der Regierung in den Medien, die eine Verbindung zwischen der jemenitischen Einheit und der neuen Verfassung herstelle, sei im übrigen unsachlich, unrechtmäßig und undemokratisch.

Rechte Parteien und gemäßigte islamische Gruppierungen bezeichnen den Verfassungsentwurf als ein Relikt aus den 70er Jahren, einer Zeit, „da der Marxismus noch stark gewesen ist“. Die Befürworter der Verfassung seien Mitglieder der sozialistischen Partei, säkulare Elemente der Gesellschaft, die für eine Trennung von Staat und Religion eintreten, Regierungsbeamte, die um ihre Stellungen und Privilegien fürchten müßten, sowie unbescholtene Bürger, die unfreiwillig zu Opfern des Werbefeldzugs der Regierung würden. Fachleute aller politischer Richtungen, so fordern diese Parteien, sollten eine neue Verfassung ausarbeiten und am Ende der Übergangszeit zur Wahl stellen. Auf die religiösen Gefühle der Menschen müsse dabei verstärkt eingegangen werden, und kein Artikel der neuen Verfassung dürfe der islamischen Sharia widersprechen, wie es bei dem vorgelegten Entwurf der Fall sei.

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Mit einem sehr detailierten, von einem anonymen Autor verfaßten Gutachten, das über einzelne Kioske und Straßenhändler vertrieben wird, gehen die fundamentalistischen Gruppen auf die geplante Verfassung ein. Als Grundlage der Argumentation werden eine Fülle von Zitaten aus dem Koran und dem „Hadith“, den Überlieferungen von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad, angeführt, ferner einige Artikel der „Ständigen Verfassung der Arabischen Republik Jemen“, die seit Dezember 1970 in der Nordhälfte Jemens gültig war.

Gegenstand der Kritik ist in diesem Gutachten vor allem Artikel 3 der neuen Verfassung: In der „ständigen Verfassung“ habe der entsprechende Artikel gelautet: „Die islamische Sharia ist die Quelle aller Gesetze.“ Der neue Verfassungsentwurf aber bestimme die Sharia nur zur wichtigsten Quelle der Gesetzgebung. Durch diese Formulierung seien der menschlichen Willkür Tür und Tor geöffnet. Außerdem wird kritisiert, daß das islamische Strafrecht, das den Alkoholgenuß, Diebstahl, Ehebruch und unerlaubten Geschlechtsverkehr mit den bekannten Strafen ahndet, nicht, wie in der „ständigen Verfassung“ berücksichtigt wurde; daß die islamische Almosensteuer fehle, Richter nicht mehr im islamischen Recht ausgebildet sein müßten, und daß dem verfassungsmäßigen Eid der Hinweis auf Koran, „Hadith“ und auf die aufrichtige Ergebenheit gegenüber dem Islam und der arabischen Nation fehle, wie die Religion es vorschreibe.

Ferner wird beanstandet, daß Nichtmoslems dieselben Rechte und Pflichten eingeräumt werden sollen wie Moslems. Wörtlich heißt es dazu: „Kommunisten, Christen, Juden, Magier und Anhänger anderer Religionen sollen nun gar im Parlament sitzen und Regierungsfunktionen übernehmen können!“ Auch die vorgesehene Gleichheit der Geschlechter wird mit Enschiedenheit zurückgewiesen — der Islam sehe eine klare Rollenverteilung vor, und es sei undenkbar, daß Frauen Richter oder Präsident werden könnten. Der Gutachter kommt abschließend zu dem Ergebnis, daß die vorgelegte Verfassung zutiefst „unislamisch“ sei und den Sitten und Bräuchen des jemenitischen Volkes nicht gerecht werde.

Ali Salim al-Baidh, der stellvertretende Vorsitzende des Präsidialrates, appellierte in den vergangenen Wochen wiederholt an die islamischen Parteien, die religiösen Gefühle der Menschen nicht für ihre politischen Ziele zu mißbrauchen. Deutlich äußerte sich auch der Präsidialratsvorsitzende Ali Abdullah Salih: „Moscheen sind dazu da, den religiösen Pflichten nachzukommen und die islamische Lehre weiterzugeben, aber nicht, um andere des Unglaubens zu beschuldigen. Die neue Verfassung besagt eindeutig, daß der Islam Staatsreligion ist und die Gesetze aus der Sharia hergeleitet werden.“ Außerdem verteidigt er den Verfassungsentwurf mit dem Argument, daß die Verfassungen der Vereinigten Arabischen Emirate, von Bahrain, Kuwait, Quatar, Syrien und Ägypten genau dieselben Artikel hinsichtlich der Staatsreligion und der Sharia enthalten und die Verfassungen vieler anderer arabischer Staaten sinngemäß dasselbe aussagen. „Wenn die Tore zur Demokratie offenstehen“, so warnte er abschließend, „diese Freiheiten aber mißbraucht werden, dann kann das zu Reaktionen führen, die uns letztlich eine Diktatur einbringen! Die neue Verfassung der Republik Jemen wurde von der Volksvertretung gebilligt. Sie ist keine himmlische Verfassung, sie kann von Zeit zu Zeit verändert und ergänzt werden!“

Seit Anfang März ist die Bevölkerung aufgerufen, sich in die Wahllisten für den Volksentscheid um die neue Verfassung einzutragen. Wegen des Fastenmonats Ramadan wurde die Eintragungsfrist bis Ende April verlänget. Die Menschen sollen dem Aufruf bereits zu großen Teilen nachgekommen sein. Ein Termin für den Volksentscheid soll im Mai oder Juni bekanntgegeben werden. Im allgemeinen wird davon ausgegangen, daß sich eine Mehrheit der Bevölkerung für die neue Verfassung aussprechen wird.

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Während die innenpolitische Auseinandersetzung um die neue Verfassung in die Endrunde geht, versucht die jemenitische Regierung außenpolitisch, ihre internationale Reputation wiederzugewinnen. Präsident Ali Abdullah Salih telegrafierte seine Glückwünsche anläßlich des kuwaitischen Nationalfeiertags. Scheich Jabir Ahmad as-Sabah bedankte sich artig. Ähnliche Telegramme gingen aus ähnlichem Anlaß nach Marokko, Syrien und Bulgarien und bewirkten ähnliche Reaktionen.

Es gehört zu den Folgen der Golfkrise und des Krieges, daß sich die Regierung in Sanaa international mißverstanden fühlt. Bereits am 3. August letzten Jahres hatte Präsident Ali Abdullah Salih dem stellvertretenden irakischen Premierminister, Taha Jassin Ramadhan, erklärt, daß der Irak sich unverzüglich aus Kuwait zurückziehen müsse. Natürlich habe der Jemen im UN-Sicherheitsrat alle Resolutionen gegen den Irak abgelehnt,aber, so wird in Sanaa heute immer wieder argumentiert, dies widerspreche nicht den Rechten des Kuwaitischen Volkes. Jemen sei keineswegs ein Feind von Kuwait und Saudi-Arabien, sondern habe lediglich wirtschaftliche Sanktionen gegen das irakische Volk und eine militärische Lösung des Konflikts abgelehnt.

Auch innerhalb der arabischen Welt fühlt sich der Jemen isoliert. Als bedrohlich wird empfunden, daß die sechs Golfstaaten Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Oman, Kuwait, Qatar und Bahrain zusammen mit Ägypten und Syrien den Frieden in der Golfregion garantieren und zu einer verstärkten wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit kommen wollen. Solche Bestrebungen, so wird in der jemenitischen Hauptstadt betont, teilten die Region des Nahen und Mittleren Ostens unter Federführung der USA in „gute“ und „böse“ Staaten ein. Eine neue Ordnung in der Region könne keinen Bestand haben, wenn Staaten wie der Jemen, der Irak, Jordanien, der Sudan, Tunesien, Algerien und Mauretanien dabei ausgeschlossen bleiben. Die arabische Welt müsse sich endlich auf ihre gemeinsamen Wurzeln besinnen und zu gemeinsamen Positionen finden, um die Sicherheit der Region zu gewährleisten, um Zerstörtes wieder aufzubauen und arabische Interessen in der internationalen Politik wirkungsvoll vertreten zu können.

In diesem Sinne wird heute auch der Arab Cooperatin Council (ACC), der Wirtschaftsverband zwischen Ägypten, Jordanien, Irak und dem Jemen, der vor zwei Jahren gegründet wurde und nie über Absichtserklärungen hinaus kam, im Jemen als kurzsichtige Unternehmung verstanden. Ebenso wie der Verband der Golfstaaten (GCC) und die Maghreb-Union könne eine solche Organisation heute nicht mehr sinnvoll sein. Statt regionaler bedürfe es gesamtarabischer Verbände. Die jemenitische Regierung ist bei ihrer panarabischen Ausrichtung geblieben, obwohl die arabische Einheit nach dem Krieg in weitere Ferne denn je gerückt ist.