Aufbruch in den Abgrund?

■ Die vereinten deutschen Grünen bleiben sich selbst treu: Statt der bitter notwendigen Strukturreformen boten sie das altbekannte Strömungs-Hickhack. Sie wählten nicht die Stars zu ihren neuen Vorsitzenden,...

Aufbruch in den Abgrund? Die vereinten deutschen Grünen bleiben sich selbst treu: Statt der bitter notwendigen Strukturreformen boten sie das altbekannte Strömungs-Hickhack. Sie wählten nicht die Stars zu ihren neuen Vorsitzenden, sondern entschlossen sich zum Kompromiß: zur ostdeutschen Christine Weiske und zum NRW-Linken Ludger Volmer

Selten waren die Geschehnisse während einer grünen Bundesversammlung so verworren, so wenig durchsichtig, die weiteren Geschehnisse so wenig kalkulierbar wie bei dieser 15.Bundesversammlung der Grünen. Und dies hing mit der Bedeutung zusammen, die man dieser Bundesversammlung, die am Wochenende im schleswig-holsteinischen Neumünster über die Bühne ging, zugemessen hatte — der schicksalhaften Bedeutung für die Partei, besonders aber für die verschiedenen Strömungen in der Partei.

Als „Parteitag aller Parteitage“ hatten grüne MatadorInnen jeder Couleur das Treffen in Neumünster immer wieder apostrophiert. Etwa Jutta Ditfurth, Radikalökologin aus Frankfurt: „Von diesem Wochenende hängt ab, ob der Gründungsvertrag der Grünen gebrochen wird oder nicht“, rief sie in ihrer Grundsatzrede den Delegierten zu.

Daß die meisten dieser Delegierten dann vierundzwanzig Stunden später dafür stimmten, mit basisdemokratischen grünen Strukturen zu brechen, war für Jutta Ditfurth darum auch das Fanal: Auch wenn die für eine Satzungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit nicht zustande gekommen sei, sei der grüne Gründungsvertrag nun doch gebrochen.

So weit mochten Realos und Angehörige der Aufbruchgruppe freilich nicht gehen. Sehr viel besser schienen sie sich mit dem, was der Parteitag erbrachte — zunächst jedenfalls — aber auch nicht abfinden zu können. „Jetzt reicht's. Wenn jetzt auch noch Ludger Volmer gewählt wird, trete ich aus!“ Dies beschied eine Realo-Protagonistin aus Nordrhein-Westfalen, nachdem die als links geltende Ost-Grüne Christine Weiske zur ersten Sprecherin der Partei gewählt worden war. Nachdem Ludger Volmer vom „Linken Forum“ sich dann tatsächlich gegen den hessischen „Realissimo“ Hubert Kleinert durchsetzte, war sich die nordrhein-westfälische Realpolitikerin freilich nicht mehr so sicher: Jetzt müsse man sich sofort zusammensetzen und überlegen, was noch zu machen sei.

Ein Anhänger der Gruppe „Aufbruch“ sah das schon am Freitag abend pessimistischer: „Ich befürchte, jetzt ist die Partei kaputt“, so reagierte der Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung, Lukas Beckmann, darauf, wie die Delegierten über die beantragte Änderung der Parteisatzung abgestimmt hatten. Da sich nach 16stündiger Debatte jene, wenn auch nur knapp, hatten durchsetzen können, die die Trennung von Amt und Mandat vollständig beibehalten wollen, daß lediglich beschlossen wurde, die Rotation abzuschaffen und den Bundesvorstand zu verkleinern, war für Beckmann „ein Absturz ins Bodenlose“.

Wütend waren Realos und Aufbrüchler — und ziemlich ratlos. Vor diesem Parteitag waren sie so selbstsicher wie siegesgewiß gewesen, die Strukturreform und ihre KandidatInnen würden schon durchkommen. Es schien genug Gründe für die Annahme zu geben, die Strukturreformer und die KandidatInnen von Realos und Aufbruch würden sich durchsetzen — so wie es ihnen auf allen Landesversammlungen der letzten Monate gelungen war.

Auf diesen Landesversammlungen konnte man den Eindruck gewinnen, daß inzwischen auch viele der gemäßigten Linken in der Grünen Partei sich nicht länger einer Strukturreform widersetzen würden; Rotation und die Trennung von Amt und Mandat nützten in Wirklichkeit nicht einmal mehr als Symbole zur Unterscheidung von linkem Lager auf der einen und Realos/Aufbruch auf der anderen Seite. Die Zweidrittelmehrheit galt als sicher.

Daß sich so viele täuschten, hat viele Gründe. Alle sich teilweise gegenüberstehenden Strömungen und vor allem deren ProtagonistInnen hatten sich schon im Vorfeld von Neumünster den Weg zu einem Ergebnis verbaut, mit dem auch die vielen Realos in der Partei gut hätten leben können. Zunächst die Realos und Realissimos selbst: Schon lange vor diesem Parteitag hatten sie immer wieder diesen Parteitag faktisch zu „ihrem“ Parteitag erklärt. Nun würde sich endlich entscheiden, ob grüne Realpolitik in der Partei eine Chance habe oder nicht — sprich: ob die Partei und ihre Delegierten endlich anzuerkennen bereit sein würden, daß „es längst an der Zeit ist, den Laden Realos und Aufbruch“ in die Hand zu geben, wie es einer ihrer Exponenten ausdrückte. Außerdem hatten gerade die MatadorInnen von Aufbruch und Realos darauf verzichtet, vor Neumünster mit dem linkeren Lager mögliche Kompromisse auszuloten. „Ich hab' dir oft gesagt, laß uns uns zusammensetzen, laß uns darüber sprechen und uns was gemeinsam überlegen, etwas, das dann auch durchkommt.“

Kaum waren am Samstag abend die Stimmen ausgezählt, kaum war klar, daß damit die Satzungsreform abgeschmettert ist — da warf Ludger Volmer dies Joschka Fischer vor. Der antwortete nicht. „Diese Inszenierung hat meinem eigenen Lager viel Sympathie gekostet. Das hat zu sehr nach Druck geschmeckt“, so drückte ein Delegierter aus, was Realos und Aufbruch auch nicht wenige Stimmen gekostet haben dürfte: Knapp zwei Wochen vor der Wahl hatten sich Antje Vollmer, Hubert Kleinert und Vera Wollenberger als ideale Führungstroika präsentiert.

Aber auch das Lager der gemäßigten Linken um Ludger Volmer hat die atmosphärische Spaltung mit herbeigeführt. Nicht wenige Linke waren über „Ludgers unerträgliche Anbiederei an die Realos“ so empört, daß sie der Satzungsreform — die immer noch mit den Realos identifiziert wird — ihre Stimme verweigerten. Ferdos Forudastan