Theatersplitter

■ Berliner Bühnen am Wochenende

Das RA. M. M.-Theater spielt in der alten Punk-Höhle S036 in der Oranienstraße wiedereinmal ihr Stück „Massentrieb“. Das ist auch der einzig passende Ort. Schwarz und Weiß bemalte affenähnliche Körper, Lendenschurze als Oberbekleidung — mit ohrenbetäubender Pseudo-Musik im Saal wird dem geneigten Zuschauer erst einmal klargemacht, daß zuallererst er getrieben wird, denn er befindet sich mitten auf der Aktionsfläche eines Kannibalenstammes. Und so erzeugt die erste halbe Stunde der Aufführung reihenweise Schockzustände. Da werden große Fässer zwischen den zerbrechlichen Menschen umhergeschleudert, mit rhythmischem Gestampfe (bisweilen 10 cm neben dem Scheitelansatz eines bis dato eher gelangweilten Zusehers) der Kommunikationslevel der folgenden Stunde eingestellt. Denn „Massentrieb“ lebt von einer Idee, einer ganz alten sogar: Dem Zuschauer mal einen Spiegel entgegenzustrecken. Hier wird dem Kiezpublikum die übliche 1. Mai-Randale als Imponiergehabe von Alpha- Männchen dargestellt, nur damit kurz darauf (letztes Jahr im Juno wurde ja D-West Weltmeister) die gleichen Triebstrukturen zum widerlichen Saufabend vor der Fußballglotze führen können — Oléoléoléolé... Die wirklich dichten Bilder, die affengleichen Menschen, die panem-et-circensis-Atmosphäre — sie können leider über eines nicht hinwegverhelfen: Daß eine gute Idee noch lange kein Theater ist. Denn bei dem gehört Dramaturgie zum Geschäft. Fr-So, 21.00, im S036.

Das Garn-Theater in der Katzbachstraße steht aus gutem Grund auf der persönlichen Bestsellerliste unterschiedlichster Menschen: Wann immer Adolfo Assor, Chilene mit markant südamerikanisch gefärbter Zunge, auf seinen Thron hoch oben über den Zuschauern steigt — bis er wieder herunterkommt, hat er mindestens drei neue Herzen geöffnet. Klingt kitschig? Ist aber schön. Denn hier arbeitet ein Überzeugungstäter. Jener „Traum eines lächerlichen Menschen“ von Dostojewski ist so lächerlich nicht — da entdeckt einer die Welt ganz neu, beschreibt das stammelnde und stotternde System von Wissenschaft, Recht, Ästhetik, gemeinhin Zivilisation genannt, als das, was es ist: Krücke für Lahme, Brille für Blinde. Und für einen kurzen Moment nimmt Assor hier jedem diese Lebensstützen fort. Schaut jedem einzelnen gerade in die Augen. Guten Tag, da bist Du. Er ist soetwas wie ein Täufer, und deswegen wohl hat sich bereits eine Gemeinde gebildet. Übrigens spielt er hervorragendes Theater, bisweilen etwas zu laut, bisweilen etwas zu gleichförmig, aber er glaubt an die Person des Tragödianten — und so ist er, was es selten gibt: ein Schauspieler mit Haut und Haar. Täglich bis 31.5. um 20.30 im Garn-Theater. Joachim Schurig